Jakob Fabian, 32, liest die Katastrophenmeldungen der Tageszeitung. Er trinkt Kaffee und nimmt dann den Bus durch die Stadt Berlin. Es geht vorbei an Bordellen, Fabian läuft wieder, er stolpert über Holzkohlestapel. Prostituierte rufen ihn mit schmeichelnden Worten und vom Himmel rieseln Flugblatttaler aus buntem Aluminium.
In diesem Buch ist Deutschland pleite. Der Großstadtroman "Fabian" erzählt die Geschichte von zwei sehr unterschiedlichen Freunden, von Jakob Fabian und Stephan Labude. Der Roman spielt Ende der 1920er-Jahre, in der Weimarer Republik, in einer Zeit, in der Kriegsanleihen durch die Bevölkerung im Nachhinein finanziert wurden. 1923 kam es zu einer so genannten Hyperinflation. Bald wird Reichskanzler Heinrich Brüning versuchen, durch heftige Kürzungen der Arbeitslosenhilfe, der Sozialhilfe und der Gehälter Deutschland aus der Krise zu sparen.
Zuschauen oder eingreifen?
Jakob Fabian arbeitet für einen Krümel Lohn als Reklametexter, inmitten eines Klimas, das von Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst geprägt ist. Er weiß nicht, wie er diese Situation ändern soll. Wie er überhaupt meistens als Beobachter dabei ist. Es gibt eine Straßenschlacht in Berlin-Wedding: Verzweifelte Arbeiter demonstrieren, sie werden von vielen, von zu vielen Polizisten niedergeschlagen. Fabian greift nicht ein. Stephan Labude will für angemessene Gehälter und Sozialleistungen kämpfen. Dazu ruft er auf in den politischen Versammlungen einer linken Partei. Fabian schaut zu.
In einer Zeitungsredaktion jener Zeit ändern sich die Tagesnachrichten stündlich. Wenn Zeilen aus Artikeln rausgestrichen werden sollen, die Seite aber gefüllt werden muss, dann erfindet der Chef schnell fünf Tote in Ägypten dazu. Das Weglassen von Tatsachen gehört zu einer wirksamen Berichterstattung dazu, sagt der Chef. Gegen die Regierung darf nichts geschrieben werden. Das weiß auch Fabian.
Später in der Kantine sitzen die Zeitungsredakteure zusammen. "Zu viel Getreide, und andere haben nichts zu fressen! Wenn in so eine Welt kein Blitz fährt, dann können sich die historischen Witterungsverhältnisse begraben lassen", sagt ein Redakteur nach dem vierten Bier. Die Themen drängen und die Weltpolitik rast vorwärts.
Plötzlich in der Rezession
1929 leitete der "Schwarze Donnerstag" die Weltwirtschaftskrise ein. Die aktuelle Finanzkrise begann 2007 mit der Immobilienkrise in den USA und betrifft heute einige der größten Industrienationen der Erde. Wo ist das stetige Wachstum geblieben, die Stabilität und vor allem das Gleichgewicht? "Wir müssen in unseren Köpfen etwas ändern", meint Fabian.
Wann verbittet das Kapital sich die staatliche Einmischung, und wann erbittet es von den Regierungen öffentliche Unterstützung? Wie kann man die Gewinne sozialisieren? Das sind Fragen, die sich in den Jahren der Weimarer Republik unter anderen Fabian und Labude stellen. Und auch einige Menschen heute.
Erich Kästner, der Autor des "Fabian", wurde 1899 in Dresden geboren. Er studierte Geschichte, Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaft. Um seine Finanzen aufzubessern, arbeitete er in unterschiedlichsten Nebenberufen; verkaufte mal Parfüms und stellte Börsenkurse für einen Buchmacher zusammen, arbeitete dann als Theaterkritiker und freier Autor.
Kästner-Bücher: verboten und verbrannt
Der Krisenroman "Fabian", der als Werk der späten Neuen Sachlichkeit erzähltechnisch ganz auf der Höhe seiner Zeit ist, funktioniert also auch autobiographisch. Kästner verarbeitet hier seine eigenen Erfahrungen als freischaffender Kreativer, entwirft mit Jakob Fabian aber gleichzeitig eine Figur, die – als "ironischer Moralist" – die von großer Unsicherheit, Zukunftsangst, Geldsorgen und erstarkendem Rechtspopulismus geprägte Atmosphäre jener Jahre spiegeln kann.
Bekannt wurde Kästner durch seine Kinderbücher, darunter "Pünktchen und Anton" (1931), "Das fliegende Klassenzimmer" (1933) und "Das doppelte Lottchen" (1949). Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, wurden alle seine Bücher verbrannt – bis auf "Emil und die Detektive". In der NS-Zeit hatte Kästner Publikationsverbot. An Theatertexten und Filmdrehbüchern arbeitete er unter Pseudonym aber immer noch erfolgreich. "Fabian", Zusatz "Die Geschichte eines Moralisten", ist sein bis heute erfolgreichster Erwachsenenroman.
Fabians bester Freund Labude lebt im wohlhabenden Westen der Stadt, hat gerade seine Abschlussarbeit an der Universität eingereicht und wartet nun auf eine Bewertung. In der Zwischenzeit hat er viel Zeit für seinen Freund. Sie führen lange Gespräche; darüber, dass es die bürgerliche Gesellschaft nicht mag, wenn Kulturgüter auseinander genommen werden, über Geld und Macht, aktives und passives Verhalten in der Gesellschaft, über Lebensziele und Ehrgeiz. Sie stellen fest, dass sie beide Moralisten sind, die an ethische Werte glauben.
Zwischen zwei Kriegen
Fabian sagt, er möchte nur zuschauen, und dass ihn weder Geld noch Macht interessiere. Der Menschheit sei sowieso nicht zu helfen. Labude aber möchte die Revolution, er möchte das Proletariat einbürgern, seine Macht im Interesse anderer verwenden: "Erst muss man das System vernünftig gestalten, dann werden sich die Menschen anpassen. […] Aber du phantasierst lieber von einem unerreichbaren vollkommenen Ziel, anstatt einem unvollkommenen zuzustreben, das sich verwirklichen lässt. Es ist dir bequemer so."
Nachts träumt Fabian von Hilferufenden, die unter einer Glasplatte gefangen sind. Vorahnungen? Adolf Hitler brüllt bereits seine rassistischen, größenwahnsinnigen Parolen in die Welt. Fabian und Labude leben in einer Nachkriegszeit, die zugleich eine Vorkriegszeit ist.
Zur Untätigkeit verdammt
Bei einer befreundeten Künstlerin lernt Fabian die Studentin Cornelia Battenberg kennen. Sie ist neu in Berlin. Er verliebt sich in sie, sie beginnen ein Liebesverhältnis. Kurz darauf verliert er den Job, weil er um eine Gehaltserhöhung gebeten hat. Cornelia geht eine Affäre mit einem Filmproduzenten ein, der sie daraufhin beim Film unterbringt. Mit Fabian will sie trotzdem zusammen sein. Er aber ist enttäuscht von ihr: "Warum verdammte sie ihn zur Untätigkeit?" Ja, warum kämpft er denn nicht mit ihr, anstatt sich vor ihren Lippen zu ekeln? Warum kämpft sie nicht mit ihm, anstatt auf dem Luxusbett unter dem Produzenten zu liegen?
Das klingt so, als ob Fabian am Ende des Romans doch noch in Aktion treten will. Und das tut er auch. Als er beobachtet, wie ein kleiner Junge beim Spielen in den Fluss fällt, springt er hinterher, um ihn zu retten. Handelt er da moralisch? Ist sein Sprung ein Impuls oder seine eigene Entscheidung? Wann entscheiden wir uns dazu, aktiv zu handeln?
Fabian ist eine zweifelnde Figur. Er möchte etwas ändern, aber gleichzeitig fehlt ihm oft der Mut dazu. Er will das Leben kennen lernen, überall dabei sein, aber wahrt doch Distanz. Er will Gerechtigkeit, fühlt sich aber zu machtlos, um sich für sie einzusetzen. Die Verhältnisse ändern? Das können andere besser. Durch sein Zuschauen gibt er gleichzeitig auch seine soziale Verantwortung ab. Das ist es, was uns Erich Kästner mit "Fabian" zeigt. Was wir damit anfangen, in diesen Zeiten, liegt an uns.
Halina Kliem ist Künstlerin und Groschenromanautorin. Zur Zeit lebt sie in Fujian, China.