Ihre Heuernte war überdurchschnittlich gut im vergangenen Sommer. Weil sie nicht alles an ihre üblichen Kunden verkaufen konnte, packte die kenianische Bäuerin Lillian Keesi ihren Kleinlaster mit dem Rest des Viehfutters voll und fuhr los. Ob sie für das Heu einen Abnehmer finden und einen profitablen Preis aushandeln würde, wusste sie vorher nicht. Fast 300 Kilometer legte sie zurück, bis sie ihre Ernte losgeworden war. Eine riskante Reise, doch sie habe keine Wahl gehabt, sagt Keesi. „Ich wusste nicht, wie ich sonst an Käufer kommen sollte.“
Auch der Bauer Denis Maina muss seine Ernte an den Kunden bringen. Doch um seine Möhren zu verkaufen, quält er sich nicht über die löchrigen Landstraßen Kenias. Er sucht mit dem Handy in der Hand nach Abnehmern für sein Gemüse: Über die App „M-Farm“ kann er Käufer finden, ohne seinen Hof verlassen zu müssen.
„Bauern sind ständig benachteiligt, weil ihnen Informationen fehlen“
M-Farm ist ein App- und SMS-Service, der heute von 22.000 Bauern in Kenia genutzt wird. Inzwischen können sie – so wie Denis Maina – über M-Farm auch den Kontakt zu potenziellen Käufern herstellen, doch gestartet ist der Dienst 2011 mit Informationen zu den aktuell üblichen Marktpreisen für landwirtschaftliche Produkte.
„Bauern sind ständig benachteiligt, weil ihnen Informationen fehlen“, sagt die Softwareentwicklerin Jamila Abass. Gemeinsam mit zwei anderen jungen Frauen hat sie M-Farm entwickelt. Die 32-jährige Abass hatte immer wieder kopfschüttelnd in der Zeitung gelesen, vor welchen Problemen Kleinbauern wie Keesi und Maina stehen, wenn sie ihre Ernten gewinnbringend verkaufen wollen: Ihre Felder sind oft weit von den Märkten entfernt, ihnen fehlen Transportmittel, Lagerräume, das Geld für Dünger und Saatgut – vor allem aber Informationen über die aktuellen Preise und Kontakte zu Käufern. Deshalb verkaufen Bauern ihre Produkte oft an Zwischenhändler, die zu ihnen aufs Feld kommen und den Preis bestimmen können.
Damit die M-Farm-Nutzer besser informiert sind, besuchen Mitarbeiter des Dienstes täglich die Märkte in inzwischen zehn größeren Städten des Landes. Dort sammeln sie die aktuellen Preise von 47 landwirtschaftlichen Erzeugnissen, darunter Sojabohnen, Mangos und Passionsfrüchte. So können die Bauern die Preise vergleichen und entscheiden, auf welchem Markt sie den besten Preis für ihr Produkt erzielen. Außerdem können sie die Entwicklung der Preise über einen längeren Zeitraum beobachten und den Verkauf ihrer Ernte besser planen.
Ein Produkt, das für ganz Afrika Sinn macht
Bauern, die nicht zu einem der Märkte fahren können oder wollen, können über M-Farm ihre Produkte auch direkt anbieten. M-Farm-Mitarbeiter wissen bereits, wenn die Bauern mit dem Pflanzen beginnen, wer welches Produkt in etwa welcher Menge anbieten wird. Zwei Wochen vor der Ernte werden die Felder inspiziert und die Qualität geprüft. Tun sich Bauern für eine größere Bestellung zusammen, organisiert M-Farm die Abholung von einem Sammelpunkt und vermittelt beim Preis, während sich die Bauern beim Einzelverkauf selbst um die Lieferung kümmern müssen – die zusätzlichen Kosten für einen gemieteten Lastwagen können viele Kleinbauern aber nicht aufbringen. Ihr Geld erhalten die Bauern über den mobilen Geldtransferdienst M-Pesa.
Denis Maina, der im Jahr zwischen 40 und 60 Tonnen Karotten verkauft und seit zwei Jahren M-Farm nutzt, macht durch den Direktverkauf bis zu einem Fünftel mehr Gewinn, rechnet er vor. Und das, obwohl zehn Prozent der Transaktionssumme stets an M-Farm gehen. Einen Monat vor der Ernte sucht Maina auf M-Farm schon nach einem Abnehmer für seine Möhren. „Da ich nicht mehr auf Zwischenhändler angewiesen bin, kann ich den Verkauf selbst kontrollieren“, sagt er. „Das ist eine große Erleichterung.“
Auch die Informationen über die aktuellen Preise gibt es nicht kostenlos: Für sieben Euro Grundgebühr pro Jahr können registrierte Nutzer die aktuellen Marktpreise abrufen, indem sie eine SMS an M-Farm schicken. Für 88 Euro im Jahr bietet das Unternehmen, das elf feste Mitarbeiter beschäftigt, zusätzlich landwirtschaftliche Beratung und Unterstützung sowie die Vermittlung an Abnehmer an – ein Service, den die Bauern bis vor kurzem nicht bezahlen mussten. „Um Gewinn zu machen, brauchen wir 100.000 Nutzer“, erklärt Jamila Abass. Bisher hätten sie ihren Kundenstamm vor allem durch Mundpropaganda vergrößert. „Das heißt, wir müssen anfangen, aggressiv zu werben.“ Wie das Unternehmen bisher über die Runden kommt, will die junge Chefin nicht erklären und verweist lediglich auf Investoren.
Das Potenzial der Bauern ist längst nicht ausgeschöpft
„Wir wollten ein Produkt entwickeln, das für ganz Afrika Sinn macht“, sagt Abass, „etwas, das auch in anderen Ländern eingesetzt werden kann.“ Ihr sei klar geworden, dass das Wissen um die Preise allein die Situation der mehr als fünf Millionen Kleinbauern in Kenia nicht drastisch verändern wird. Deshalb habe M-Farm sich von einer reinen kostenlosen Preisinformationsapp zu einem gewinnorientierten Dienstleister für Bauern weiterentwickelt. M-Farm will eine Marktlücke füllen. „Marktzugang und bessere Preise. Das brauchen die Bauern“, glaubt Abass.
John Cheburet, Radiojournalist und Landwirtschaftsexperte, glaubt, dass die App vielen Bauern geholfen hat, ihr Potenzial aber noch längst nicht ausgeschöpft ist: „Viel mehr Bauern müssten von M-Farm wissen“, sagt er. „Die Macher geben sich Mühe, aber noch sind sie mehr Techies als Landwirte, denn die Artikel und Blogs zu landwirtschaftlichen Themen sprechen längst nicht alle Probleme der Bauern an.“
Lillian Keesi ist mittlerweile davon überzeugt, dass es sich lohnt, auch für ihr Heu täglich über M-Farm den Marktpreis zu recherchieren. Bei der nächsten Heuernte kann sie also auf dem Sofa sitzen bleiben: Die Käufer findet sie über die App.
llustration: Theresa Hattinger