fluter: In Ihrem Buch erzählen Sie, wie Sie mit Ihrer Familie in bescheidenen Verhältnissen in Istanbul aufwachsen und davon träumen, Comiczeichner zu werden. Es geht darin aber auch um Machtkämpfe zwischen linken und rechten Türken und sogar um den Aufstieg des heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Ziemlich viel für eine Graphic Novel, oder?
Ersin Karabulut: Es war natürlich eine Herausforderung, die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der Türkei zusammen mit den prägendsten Momenten meines Lebens in eine autobiografische Graphic Novel zu gießen. Andererseits haben gerade Zeichnungen die Kraft, sehr vielfältige Eindrücke zu vermitteln und die Leser zu eigenen Gedanken zu animieren. Das zu schaffen ist das entscheidende Puzzlestück für so ein Werk. Das Witzige hier ist ja, dass es um einen Jugendlichen geht, der eben Comiczeichner werden will. Schon deshalb ist eine Graphic Novel das perfekte Medium für meine Geschichte.
Wann haben Sie Comics für sich entdeckt?
Als ich noch ein kleiner Junge war, gab es im türkischen Fernsehen nur ein oder zwei Kanäle – und natürlich kein Internet. Niemand wusste, wie viel Staatsideologie in den Programmen steckte, also wie objektiv die Nachrichten wirklich waren. Meine Perspektive änderte sich, als mein Vater ab und zu eine Ausgabe des Satiremagazins „Gırgır“ (Spaß, Anm. d. Redaktion) nach Hause brachte. Die Seiten waren eine bunte Mischung, es gab Aktuelles, Witze und Kritisches zu lesen. Das faszinierte mich total, weil ich plötzlich von Dingen erfuhr, über die niemand um mich herum sprach. Das Magazin war wie ein Türöffner in den echten Alltag der Türkei. Ab den 1990er-Jahren erschien dann „LeMan“, auch dieses Magazin hatte großen Einfluss auf meine Generation.
Als Jugendlicher wollten Sie Figuren wie Superman, Popeye und Lucky Luke zeichnen. Aber mit Mitte 20 gehörten Sie bereits zu den wichtigsten politischen Karikaturisten der Türkei. Ihre Arbeiten erschienen lange in Humor- und Satiremagazinen wie “„Penguen“ (Pinguin) und „Uykusuz“ (Schlaflos). Erdoğan statt Superman, wie kam es dazu?
Ehrlich gesagt bin ich bis heute nicht besonders politisch interessiert. Fakt ist aber, dass die türkische Lebensrealität mich eingeholt hat. Ich weiß so viel, wie ich heute über Politik weiß, weil Entscheidungen von Politikern mein Leben sehr stark beeinflusst haben. Man kann in der Türkei nicht unpolitisch sein, selbst wenn man will. Das führt dazu, dass wir Türken bei jeder Wahl fast einen Herzinfarkt kriegen. Schauen Sie sich die enorm hohe Wahlbeteiligung in den vergangenen Jahren an, die liegt bei fast 90 Prozent.
Mit Ihren Zeichnungen schafften Sie es auf die Titelseiten von Satiremagazinen. Der Erfolg hatte aber einen Preis. Sie berichten in Ihrem Buch von Panik und schlaflosen Nächten. Sie hatten Angst davor, dass rechte Nationalisten und religiöse Fanatiker Ihnen etwas antun könnten.
Ja, leider. Meine Kollegen und ich wurden oft mit dem Leben bedroht. Einmal zeigte ein regierungsnaher Sender unsere Magazincover sogar im Fernsehen und erklärte uns zu „Feinden der Nation“. Die Angst, im Gefängnis zu landen, ist das eine. Das andere sind gewaltbereite Fanatiker, die sich durch Aussagen von Politikern ermutigt fühlen, gegen Andersdenkende vorzugehen. Diese Menschen bilden sich dann ein, Gewalt sei legitim. Vor solchen Leuten muss man sich wirklich fürchten.
Seit dem Aufstieg Erdoğans und seiner islamisch-nationalistischen AKP vor 20 Jahren hat sich die bestehende Kluft zwischen säkularen und religiösen Gruppen im Land weiter verschärft. Die Pressefreiheit wurde enorm beschnitten, viele Journalisten, Künstler und Akademiker landeten im Gefängnis – und die Opposition hat die Wahlen erst im Frühjahr wieder verloren.
Das stimmt. Wobei wir nicht vergessen dürfen, dass auch Erdoğans Aufstieg aus der Politik resultierte, die vor ihm gemacht wurde. Das Ausmaß der Erdoğan-Ära hingegen, in der viele Schüler eine unzureichende Bildung bekommen, werden wir erst in den nächsten Jahren spüren. Ich bin ehrlich gesagt nicht besonders zuversichtlich, was die nahe Zukunft angeht. Andererseits versuche ich, hoffnungsvoll zu bleiben, die Türkei ist immerhin ein sehr dynamisches Land.
Für „Penguen“ zeichneten Sie Mitte der 2000er-Jahre ein Cover, das Erdoğan, der damals noch Ministerpräsident war, in verschiedenen Tiergestalten abbildete. Er verklagte das Magazin, doch das Verfahren verlor er. Inzwischen hat er den Staatsapparat viel fester im Griff. War der Freispruch rückblickend schlicht Glück?
Sagen wir so: Ich habe Zweifel daran, dass das Verfahren heute genauso ausgehen würde. Ich will aber auch betonen, dass ich mit Erdoğan persönlich gar kein Problem habe. Denn mir ist klar: Würde er nicht sagen, was er sagt, würde dies schlicht jemand anderes tun, und die Menschen würden dann diese Person wählen. Ich denke, dass das türkische Volk erst einmal auf sich selbst schauen muss. Zu sagen, ich bin ein Demokrat, ist leicht. Aber wie demokratisch eingestellt bist du wirklich? Zu sagen, ich bin kein Rassist, ist auch leicht. Aber was tust du konkret gegen Rassismus im Alltag? Solche Fragen müssen wir uns stellen, andernfalls ist eine tiefgründige Veränderung nicht möglich.
Ein wichtiger Charakter in Ihrer Graphic Novel ist Ihr Vater. Er warnt Sie davor, als politischer Zeichner zu arbeiten. Auch Sie spüren die Gefahr, gleichzeitig halten Sie aber an Ihrer Arbeit fest. Diese emotionale Achterbahnfahrt löst beim Lesen teilweise ein beklemmendes Gefühl aus.
Ja, das war mir auch wichtig, schließlich hat dieses Dilemma, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, mich fast meine gesamte Karriere begleitet. Übrigens hieß der Arbeitstitel für die Graphic Novel deshalb anfangs auch „Between“. Auf der einen Seite warnten mich meine Familie und Freunde vor den Konsequenzen, auf der anderen plagte mich mein Gewissen. Meine Kollegen und ich fühlten uns aber immer verpflichtet, unsere Arbeit fortzuführen. Dieses Gefühl, zwischen beiden Welten zu leben, begleitet letztendlich die gesamte Türkei. Bis heute fühlen sich doch Millionen von Türken weder in Europa noch im Orient zugehörig. Wir sind ein Volk, das sehr aufgewühlt ist.
„Das Tagebuch der Unruhe“ erscheint in Deutschland und in weiteren Ländern. Warum ausgerechnet in der Türkei nicht?
Es besteht die Möglichkeit, dass das Buch wegen des Titels und des Covers schnell Aufsehen erregen und letztendlich ein Verkaufsverbot angeordnet würde. Das wäre natürlich auch ein wirtschaftlicher Schaden für den Verlag. Wir wollen aber vor allem verhindern, dass ich persönlich Probleme kriege. Gerade jetzt, so kurz nach den Wahlen in der Türkei, können wir die Stimmung im Land noch nicht gut genug einschätzen.
Könnten Sie den Titel und das Cover nicht ändern?
Bevor es so weit kommt, ist es mir lieber, das Buch erscheint gar nicht. Natürlich ist das traurig, vor allem für die Türken, die sich fragen, warum es in Deutschland, Polen, Spanien, Frankreich erscheint, aber nicht in der Türkei. Das ist traurig, aber bevor ich rechtliche Probleme kriege oder sich Tausende Internettrolle auf mich stürzen, verzichten wir aktuell lieber auf eine Publikation in der Türkei.
Sie leben inzwischen in Paris, können Sie problemlos in Ihre Heimat reisen?
Ja, ich habe zum Glück bisher keine Probleme, ein- und auszureisen. Und auch wenn ich nicht mehr in der Türkei lebe, halte ich weiterhin Onlinevorlesungen für grafisches Erzählen an der Mimar-Sinan-Universität der Schönen Künste. Ich versuche, damit einen Beitrag zum Stellenwert des Comics in der Türkei zu leisten.
Ersin Karabulut, Jahrgang 1981, gehört zu den einflussreichsten Comicautoren der Türkei. Er war 2007 Mitbegründer von „Uykusuz“ (Schlaflos). Das mittlerweile aus wirtschaftlichen Gründen eingestellte Magazin erschien 15 Jahre lang und gehörte zu den bekanntesten Humorzeitschriften der Türkei. Karabuluts Graphic Novel „Das Tagebuch der Unruhe“ (Carlsen Verlag) ist der erste Teil einer auf drei Bände ausgelegten Reihe.
Portrait: Rita Scaglia