„Telefon Doweria“, die Telefonseelsorge für Russischsprachige, gibt es seit Ende der 1990er-Jahre. Viele Ehrenamtliche engagieren sich in dem Berliner Projekt, das von der Psychologin Tatjana Michalak koordiniert wird.

fluter: Für Nichtrussen – was heißt „Doweria“?

Tatjana Michalak: „Doweria“ bedeutet Vertrauen, denn wir sind ein Vertrauens-Telefon. Hier ist alles anonym, die Nummer, die uns anruft, sehen wir nicht. Dadurch öffnen sich die Leute mehr.

Wer nimmt Ihr Angebot in Anspruch?

Wir bekommen Anrufe aus der ganzen Welt, nicht nur aus Deutschland: aus Japan, aus der Schweiz, aus Aserbaidschan. Weil wir fast die Einzigen im 24-Stunden-Dienst sind und weil wir alle selbst einen Migrationshintergrund haben. Im Jahr 2011 haben übrigens erstmals mehr Männer als Frauen angerufen – das ist schon was Außergewöhnliches.

Sie sagen „wir“. Wer arbeitet denn beim Telefon Doweria?

Momentan sind es 88 Ehrenamtliche – Frauen und Männer –, die hier im Schichtdienst arbeiten. Einige sind schon seit 15 Jahren dabei (das Projekt wurde 1999 initiiert, Anm. d. Red.). Früher waren es vor allem Rentner, die sich engagieren wollten. Jetzt haben wir auch viele Studenten hier, die noch vor ihrer Berufsentscheidung stehen. Die sagen: „Ein Anruf, das ist wie ein Semester Psychologiestudium.“ Das ist keine Theorie hier, das ist pure Praxis.

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Bekommt Anrufe aus aller Welt: Tatjana Michalak von der russischsprachigen Telefonseelsorge (Foto: Lukas Wohner)

Bekommt Anrufe aus aller Welt: Tatjana Michalak von der russischsprachigen Telefonseelsorge

(Foto: Lukas Wohner)

Mit welchen Sorgen melden sich die Menschen bei Ihnen?

In der ersten Zeit ist bei Immigranten alles ein Problem. Die rufen an: „Ich hab einen Brief bekommen, was steht da?“ – und dann ist das nur Werbung.

Gibt es denn auch typisch russische Themen?

Früher ging es meist um Einsamkeit und Integration. Jetzt sind es mehr psychische Probleme und Streit zwischen Eltern und Kindern. Sucht ist auch ein großes Thema – Alkohol bei den Erwachsenen, harte Drogen bei den Jugendlichen. Und es gibt viele Anrufe wegen häuslicher Gewalt gegen Frauen.

Wie ist dieser Wandel zu erklären?

Die russischen Migranten wollen sich integrieren, sie wollen dabei sein. Sie haben Jobs und Freunde gefunden, sie haben mittlerweile ihr Leben hier. Deshalb ist Einsamkeit nicht mehr so ein großes Thema. Außerdem glaube ich, dass das Suchtpotenzial allgemein gewachsen ist.

Und die familiären Probleme?

Das ist meist so: Die Eltern wollen ihren Kindern weiter die russische Kultur angedeihen lassen, aber die Kinder leben in der deutschen Gesellschaft. Dadurch entstehen Missverständnisse. Die Kinder denken, die Eltern verstehen sie nicht. Sie wachsen eben anders auf, als russische Eltern das gewohnt sind. Oft sagen die Eltern auch: „Mein Kind hört nicht auf mich, es ist zu frech!“ Aus Sicht deutscher Eltern geht es dabei um ganz normales Verhalten. So kommt es zum Streit. Viele werden in der Schule auch gemobbt, weil sie aus Migrantenfamilien kommen oder weil die Eltern Sozialhilfeempfänger sind. Und zu Hause werden sie nicht verstanden. Die Kinder kommen damit nicht klar – und am Ende werden viele süchtig.

Spielen denn auch politische Konflikte eine Rolle – Ukraine, Georgien, Tschetschenien?

Eher selten. Aber intern hatten wir heftige Diskussionen über die Ukraine-Krise. Wir kommen hier ja alle aus unterschiedlichen Ländern, und der eine ist für Russland, der andere für die Ukraine. Bevor es dann eskaliert ist, haben wir gesagt, das ist nicht unser Thema. Wir diskutieren, aber wir streiten nicht. Wir wissen, dass man andere nicht zwingen kann, so zu denken wie man selbst.

Die Krise hat das Projekt also nicht beeinträchtigt?

Als Koordinatorin hab ich mir schon Sorgen gemacht: Wir heißen „russische Telefonseelsorge“ – wie wird diese Krise auf uns wirken? Aber ich habe nichts Negatives gespürt, im Gegenteil. Wir erfahren mehr Zustimmung denn je, weil es gerade in diesen Zeiten wichtig ist, für die Menschen da zu sein.

An welche Anrufe erinnern Sie sich noch heute?

Wir wurden einmal für eine Sterbebegleitung angefragt, von einer Deutschen. Weil das die Sprache war, die ihre Mutter gesprochen hat. Die wollte sie noch einmal hören. Und wir haben einmal einen Anruf bekommen von einer älteren Frau: „Können Sie mir Hilfe schicken?“ Da haben wir einen Krankenwagen gerufen. Als der dann da war, rief die alte Frau wieder an: „Wen haben Sie mir geschickt – die sprechen ja alle deutsch!“

Ich nehme an, es ist nicht immer so witzig.

Das stimmt. Wir haben hier auch einen „Stammkunden“, der uns einmal im Jahr zu Weihnachten anruft und sagt, dass er eine Bombe gelegt hat. Da musste sogar schon einmal eine Straßenbahn evakuiert werden. Es wurde zwar nie eine Bombe gefunden, aber wir müssen es natürlich melden.

Ist Ihre Anschrift deshalb geheim – aus Angst?

Wir müssen anonym bleiben zum Schutz unserer Mitarbeiter. Schließlich haben wir hier oft mit psychisch kranken Menschen zu tun. Es gibt Leute, die sagen am Telefon, sie seien von der Mafia und hätten schon Menschen umgebracht. Wenn da die Adresse im Netz stünde …

Sind solche Anrufe nicht sehr belastend?

Klar. Wir kriegen bis zu 20 Anrufe pro Tag, die manchmal bis zu drei Stunden dauern. Da muss man nach einer Stunde eigentlich eine Pause einlegen, sonst wird es zu anstrengend. Und manches davon schleppt man tatsächlich länger mit sich rum. Es ist ja alles vertraulich, unsere Leute dürfen mit keinem darüber reden. Also haben wir einmal im Monat Supervision und reden hier darüber.

Wieso tun Ihre Ehrenamtlichen sich das an?

Das hat viel mit einer ganz bestimmten Lebenseinstellung zu tun. Dass man den Mitmenschen helfen will. Aber wir bekommen auch viel zurück: Einmal rief jemand aus New York an und sagte, eine Frau habe sich hier in Berlin mit Tabletten umgebracht. Wir haben die Feuerwehr gerufen, und die konnten sie retten. Darauf sind wir sehr stolz, und das motiviert uns.

Sie sind selbst mit 18 aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Hätten Sie damals ein solches Telefon gebraucht?

O ja, das wäre nicht schlecht gewesen. Aus dem ersten Gefühl – „Deutschland ist ein Märchenland“ – rast man schnell in eine depressive Phase. Man wird bald enttäuscht und fragt sich: „Wieso werde ich behandelt wie ein Mensch zweiter Klasse?“ Ich wollte nach sieben Monaten wieder zurück. Aber meine Mutter hat gesagt: „Nur über meine Leiche!“ Das ist eine kulturelle Sache: Bei uns hält die Familie zusammen. Dass später meine ganze Familie nachgekommen ist, hat Deutschland erst zu meinem Zuhause gemacht.

Und mit wem sprechen Sie heute?

Irgendwann ruft immer jemand an, der genau die gleichen Sorgen hat wie man selbst. Und im Gespräch löst man dann auch die eigenen Probleme.

Die gebürtige Ukrainerin Tatjana Michalak lebt seit 1990 in Deutschland und kam 1998 während ihres Psychologiestudiums zum Telefon Doweria. Zunächst ehrenamtlich tätig, ist sie heute als einzige Hauptamtliche für die Koordination des Projekts, Supervisionen sowie Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter zuständig. Außerdem entwickelt sie neue Projekte.

Das Telefon Doweria ist in Trägerschaft des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V. Alle Ehrenamtlichen werden nach den Richtlinien der kirchlichen Telefonseelsorge Berlin-Brandenburg ausgebildet. Die Seelsorge ist unter (030) 440 308 454 zu erreichen.

Neben der Telefonseelsorge existieren noch diverse andere russischsprachige Projekte: ein Hospizdienst, bei dem speziell ausgebildete Ehrenamtliche Sterbebegleitung für Menschen mit russischer Muttersprache leisten, ein Hausnotruf und ein Seelsorge-Chat. Dieses Jahr soll zudem eine Notfallseelsorge entstehen, mit fünf Ehrenamtlichen, die Sterbenachrichten überbringen. Außerdem geplant: „Jugendliche helfen Jugendlichen“. Interessenten können sich bei doweria@berliner-telefonseelsorge.de melden.

Fotos: Wolfgang Müller/Ostkreuz, Lukas Wohner