Harald Simons hat im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt eine Studie zu den Kosten der Nichtbebauung eines Teils des Tempelhofer Flugfeldes erstellt. Kritiker warfen ihm dabei einen fragwürdigen Umgang mit Zahlen vor. Der Ökonom ist einer der Vorstände des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Beratungsunternehmens Empirica AG, das im Auftrag von Ministerien, Kommunen, Stiftungen, Verbänden und privaten Investoren Studien erarbeitet. Zwar sind das oft komplexe Zahlenwerke, aber eigentlich zähle in der Politik etwas anderes, betont Simons: die überzeugende Interpretation von Zahlen. Womit sich die Frage stellt: Ist Zahlen in der Politik zu trauen?
fluter.de: Die Macht von Zahlen liegt ja eigentlich darin, dass sie für kühles, rationales Denken und Argumentieren stehen. Wie oft werden Zahlen für den politischen Betrieb gepimpt?
Harald Simons: Das kommt durchaus vor. Aber jetzt bitte Vorsicht: Wer das macht, schadet sich damit selbst. Ich sage immer: Der 64-jährige Professor, der in der Provence noch sein Haus abbezahlen muss, der kann das vielleicht bringen, für ein gutes Honorar genau die Zahlen zu produzieren, die der Auftraggeber sehen möchte. Der hat ja nicht mehr viel zu verlieren.
Wer vertrauenswürdige Zahlen haben will, sollte also lieber junge Wissenschaftler und Berater fragen?
(Lacht) Letztlich schon. Andererseits braucht es auch viel Erfahrung, wenn man diesen Job gut machen will. Das ist nichts, was man nach zwei Jahren beherrscht.
Und Sie als politische Beratungsfirma? Wie groß ist die Versuchung, es den Auftraggebern recht machen zu wollen?
Solche Anfragen kommen vor. Ein Ministerium oder ein Verband ist unzufrieden mit den Ergebnissen einer Studie und will eine „Lobbyzahl“ haben. So nennen wir das, wenn eine Zahl in die politisch gewünschte Richtung frisiert werden soll. Aber die Versuchung ist für uns sehr gering. Andere – also konkurrierende Beratungsfirmen und Wissenschaftler – würden sofort über einen herfallen, und man blamiert sich. Da schreibt man besser gleich eine saubere, ergebnisoffene Studie, bei der man erst im Laufe der Arbeit eine Hypothese bildet. Wenn man sie hat, weiß man auch schon in etwa, wer politisch dagegen sein wird, schließlich gibt es bei jeder Entscheidung immer Befürworter und Gegner, auch wenn die „Frontlinien“ bei Sachfragen munter durcheinandergehen. Den Gegner sollte man beim weiteren Schreiben immer vor Augen haben, denn den muss man überzeugen. Kurz und gut: Es gibt eine gegenseitige Kontrolle, die einen zu ordentlichem Zitieren und einer guten Beschreibung der Methodik zwingt. Außerdem müsste man nur zwei-, dreimal so ein dünnes Brett bohren, dann hätte man seinen Ruf in der Branche auch schon versaut.
Und was ist mit der Gefahr, dass Ihre redlich erarbeiteten Ergebnisse im Nachhinein missbraucht und fehlinterpretiert werden?
Auch das kommt vor, aber in so einem Fall schreiten wir ein, so gut es geht. Die typische Situation ist: Du schreibst eine Studie, die nicht zu dem vom Auftraggeber gewünschten Ergebnis kommt. Und dann passiert es, dass die Studie in der Schublade verschwindet und nicht veröffentlicht wird. Dabei muss die Öffentlichkeit ein Interesse haben, dass das alles publik wird. Diese Zahlen wären die Grundlage, um vernünftige politische Entscheidungen fällen zu können.
Und wenn die Ergebnisse nicht in der Schublade verschwinden: Was sind gängige Strategien der Verfälschung?
In den seltensten Fällen wird heute noch so brutal gelogen, wie es zum Beispiel in der DDR vorkam, als die staatliche Zentralverwaltung für Statistik im Jahr 1987 in der Außenhandelsbilanz ein Exportdefizit festgestellt hatte. Auf einem internen Papier dazu hat Erich Mielke, der ja eigentlich für die Stasi zuständig war, persönlich handschriftlich vermerkt: „Damit auch ein Exportüberschuss gemeldet werden kann, wird vorgeschlagen, Veränderungen wie folgt vorzunehmen“. Daneben hat er die tatsächliche Zahl mit Kugelschreiber rotzfrech durchgestrichen und die Wunschzahl drübergeschrieben. Wobei ihm noch das Allerpeinlichste passiert ist: Er hat sich verrechnet. Daneben steht: „gezeichnet Mielke“. Damit würde man heute nicht mehr durchkommen.
Womit denn?
Ein häufig versuchter Trick ist: Irgendeine Entwicklung passt einem nicht in den Kram, und dann werden die entsprechenden Zahlen zwecks Vertuschung zusammengemischt mit anderen, weniger eindeutigen und positiveren Zahlen. Beispiel: Mietspiegel. Normalerweise sind die Mieten im Stadtzentrum höher als an der Peripherie. Damit die Mieten in zentralen Lagen aber nicht zu hoch ausgewiesen werden, bildet man Wohnlagenklassen – und in denen finden sich dann sehr zentrale und Stadtrandlagen gemeinsam mit dem Ergebnis, dass die scheinbare Durchschnittsmiete im Zentrum geringer ist. Mit einfachem Weglassen oder einfachem Lügen kommt man heute praktisch nicht mehr durch. Wir haben heute eine solche Dichte an frei zugänglichen Daten, dass praktisch immer die betreffenden Sachzusammenhänge auch indirekt durch andere Zahlen erschlossen werden können. Mein aktuelles Lieblingsbeispiel aus unserer Arbeit ist das Thema „energetische Sanierung“. Viele argumentieren, dass die energetische Sanierung praktisch immer wirtschaftlich sei, und haben viele Daten erhoben und Studien mit entsprechendem Ergebnis geschrieben. Meine Hypothese war, dass das nicht stimmt. Aber wie bekam ich eine aussagekräftige Zahl dagegen? Ich habe sie im Nebenkostenspiegel des Mieterbundes gefunden: Demnach klafften bei der Einsparung von Heizenergie durch Sanierung Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander.
Findet die erste Beeinflussung der Ergebnisse nicht schon in dem Moment statt, wo gerade Sie ausgewählt werden?
Was stimmt, ist: Man hat als Anbieter von Studien eine Art Branding – etwas, wofür man steht. Wenn es zum Beispiel einen Zielkonflikt gibt zwischen Wohnraumversorgung der Bevölkerung speziell für Familien einerseits und Naturschutz andererseits, würden wir als Empirica uns in der Regel für die Wohnraumversorgung aussprechen. Das heißt, im Zweifel empfehlen wir, die Streuobstwiese für neue Wohnungen zu opfern. Und dass wir in der Regel so argumentieren, ist in der Branche und in der Politik bekannt. Von anderen ist hingegen bekannt, dass sie bei einem solchen Zielkonflikt eher auf der Umweltseite stehen. Aber das ist in Ordnung. Am Ende geht es bei der Interpretation von Zahlen immer um Werturteile. Wichtig ist nur, dass alle relevanten Daten berücksichtigt und offengelegt werden. Aber das Entscheidende ist am Ende nie eine Zahl, sondern ein Fazit. Eins, das man aber mit Zahlen gut begründen muss.
An Ihrer Berechnung der Kosten einer Nichtbebauung des Tempelhofer Flugfeldes in Berlin gab es viel Kritik. Sie haben zur Erfassung des Erholungswertes des alten Flugfeldes als Parkanlage unter anderem die Kosten für ein Hin- und Rückfahrt-Ticket im Nahverkehr angesetzt. Ist das nicht Augenwischerei, wenn so eine willkürliche Festsetzung schließlich in eine amtliche Kostenschätzung einfließt?
Das war alles andere als willkürlich. Mit dem Wert eines Nahverkehrstickets wird so etwas schon seit vielen Jahrzehnten berechnet. Das Problem ist doch, dass bessere Zahlen oft nicht existieren. Woher soll der Erholungswert einer Freifläche bekannt sein? Frage ich die Besucher, werden sie mir „sehr, sehr hoch“ antworten – aber nur, solange sie nicht wirklich zahlen müssen. Müssten sie wirklich zahlen, wäre die Antwort meist: „Och nö, so viel ist mir das nicht wert.“ Wichtig ist, dass solch ein Berechnungsverfahren, so behelfsmäßig es auch sein mag, dann immer gleich angewandt wird und nicht jeder etwas anderes zugrunde legt und damit beliebige Ergebnisse produziert werden. In der Verkehrswegeplanung des Bundes gibt es viele Diskussionen dieser Art. Eine der besonders kontroversen Fragen ist ja zum Beispiel, mit wie viel Euro der Wert eines Menschenlebens einzustufen ist.
Wie bitte, Menschenleben werden da mit einem Geldwert beziffert?
Wenn es um die Entscheidung über – zum Beispiel – den Bau einer Umgehungsstraße geht oder nicht, bleibt einem gar nichts anderes übrig. Einfach weil eine Umgehungsstraße immer viele Vor- und Nachteile hat, es viele Güter und Werte gegeneinander abzuwägen gilt. Es ist doch so: So eine Straße kostet einige Millionen Euro. Und der CO2-Ausstoß steigt eventuell, weil die Autos zum Beispiel einen größeren Bogen um die Stadt fahren müssen. Dafür hat man in der Innenstadt eine geringere Lärmbelästigung und – Achtung, jetzt wird es heikel – vielleicht zwei Verkehrstote weniger. Wie rechnet man so etwas gegeneinander auf? Würde man Menschenleben nicht mit einem Wert versehen, gäbe man ihnen damit de facto den Wert null – weil sie dann rechnerisch nicht berücksichtigt würden. Und rechnen muss man, denn am Ende muss jemand entscheiden, ob sich der Bau lohnt. Im Bundesverkehrswegeplan sind gerade wiederrund 2.000 Projekte beantragt worden, von denen man aber nur eine bestimmte Auswahl finanzieren und umsetzen können wird.
Wie wär’s damit, so etwas gar nicht gegeneinander aufzurechnen und bei solchen Fragen doch besser aus dem Bauch heraus zu entscheiden?
Als Student habe ich auch noch gesagt: So etwas kann und darf man nicht rechnen! Inzwischen bin ich überzeugt: Es ist schlichtweg demokratischer, wenn es eine Zahl gibt – und sei sie noch so behelfsmäßig. Denn eine Bauchentscheidung fällt immer einer alleine – und hat dabei vielleicht nur seine eigenen Interessen im Auge und nicht das Allgemeinwohl. Wenn es hingegen einen objektivierten Zahlenwert in einer standardisierten Kosten-Nutzen-Abwägung gibt, kann man eine geordnete Debatte führen – sich darüber streiten und verständigen. Darum kommt man nicht umhin zu benennen, wie hoch ein Menschenleben hier gewertet werden soll.
Wie hoch ist es denn?
In der standardisierten Bewertung von Verkehrswegeinvestitionen wird ein Toter mit 1,21 Millionen Euro angesetzt. Man könnte natürlich, um moralisch aus dem Schneider zu sein, ein Menschenleben über alles stellen und ihm damit den Wert „unendlich“ beimessen. Aber dann müsste man zwangsläufig alle paar Meter eine Fußgängerampel bauen oder den Straßenverkehr gleich verbieten – der kostet ja wirklich viele Menschenleben.
Zum Schluss bitte noch einen Tipp. Welchen von den Zahlen, die in den Medien so kursieren, kann man aus Ihrer Sicht denn überhaupt vertrauen?
Am besten hält man sich an die amtlichen Zahlen, die durch die statistischen Ämter erhoben worden sind und die dadurch bestimmten Qualitätskriterien genügen. Wichtig ist der Grundsatz, dass Zahlen, Rechnungen, Ergebnisse und Interpretationen veröffentlicht werden. Aber auch bei amtlichen Zahlen gibt es Qualitätsunterschiede. Die höchste Qualität haben Zahlen, die doppelt oder sogar dreimal quergerechnet sind. Die höchste Gattung an Vertrauenswürdigkeit hat sicherlich die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes beziehungsweise der Statistischen Landesämter, da diese auf drei verschiedenen Wegen berechnet wird. Das sind auch für uns beim Verfassen von Studien und Gutachten die besten Rohstofflieferanten.
Harald Simons ist einer der Vorstände des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Beratungsunternehmens Empirica AG, das im Auftrag von Ministerien, Kommunen, Stiftungen, Verbänden und privaten Investoren Studien erarbeitet. An der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig lehrt er Volkswirtschaftslehre mit einem Schwerpunkt auf den Themen Wohnungsmarkt und Wohnungspolitik, Demographie, Regionalwirtschaft und soziale Sicherungssysteme.