Wer in diesen Tagen als Tourist Griechenlands Hauptstadt Athen besucht, wird von der viel beschriebenen Wirtschaftskrise nur wenig mitbekommen: Die Cafés in der Innenstadt sind wie vor der Krise rund um die Uhr voll, bei noch warmen Temperaturen werden massenhaft Frappés über die Theken gereicht, und die Akropolis ist bevölkert mit Besuchern aus aller Welt, die Selfies vor den Säulen des Parthenons schießen.
Die Korrespondenten sind längst mit anderen Krisen beschäftigt
Und auch in deutschen Massenmedien ist die griechische Krise nicht mehr groß Thema. Bis Ende des Sommers berichteten die auflagenstärksten Blätter noch über alle Details der griechischen Politik: Griechenland wählte ein neues Parlament und stimmte über die Annahme eines Kredits ab, der von der EU angeboten und mit Reformauflagen versehen war. Die Medien verliefen sich dabei teils in Spekulationen darüber, ob Griechenland den Forderungen der EU und weiterer Institutionen nachkommen oder womöglich aus der Eurozone ausscheiden würde – inzwischen taucht die griechische Politik nur noch sehr sporadisch auf den Titelseiten auf. Wenn über die jüngste Verschiebung der Auszahlung von Hilfsgeldern durch die Finanzminister der Eurogruppe berichtet wird, dann drucken selbst überregionale Zeitungen nur eine Agenturmeldung auf den hinteren Seiten. Die Korrespondenten sind längst schon wieder mit anderen Krisen beschäftigt.
Wo ist die griechische Krise?
Betrachtet man den Zustand der griechischen Wirtschaft, zeigt sich jedoch, dass die Situation im Land weiterhin katastrophal ist: Griechenland ist nach Japan weltweit das Land mit der größten Staatsschuldenquote. Nach Angaben von „Eurostat“ liegt die Arbeitslosenquote von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren bei rund 50 Prozent, in der Gesamtbevölkerung ist sie von 7,8 Prozent (Stand: 2008) auf aktuell gut 25 Prozent gestiegen. Das kann für die Betroffenen lebenslange Folgen haben: Wer früh arbeitslos ist, hat ein größeres Risiko, später im Job weniger zu verdienen und vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu werden. Außerdem kann bei längerer Arbeitslosigkeit auch Obdachlosigkeit drohen, denn eine Grundsicherung wie das deutsche Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld II gibt es in Griechenland nicht.
Das Gegenteil von Erfolg ist die Unsichtbarkeit
Und trotzdem sind die Auswirkungen der Wirtschaftskrise an den touristischen Orten Athens praktisch nicht zu sehen. Dass die Krise für Außenstehende oft kaum wahrnehmbar ist, hängt mit dem Wesen der Armut zusammen: Wer nicht genug Geld hat, um auszugehen und sich in der Innenstadt ins Café zu setzen, bleibt vermutlich zuhause. Wer nach dem Schulabschluss oder Studium keinen Job findet, lebt eben entweder (wieder) bei den Eltern oder geht gleich ins Ausland und sucht dort eine Chance. Das Gegenteil von Erfolg ist die Unsichtbarkeit.
Die Grenzen des Machbaren zeigen sich nur noch beim Thema Flucht
Wenn über die angespannte Lage in Griechenland berichtet wird, dann meist im Zusammenhang mit den Flüchtlingen, die zu Zehntausenden griechischen Boden betreten – jedoch selten in der Hauptstadt, sondern auf Inseln wie Kos, Lesbos und Rhodos. Diese Zuwanderung versucht der von der Eurokrise schwer getroffene griechische Staat politisch zu steuern und stößt dabei schnell an die Grenzen des Machbaren. Und so erschien die Wirtschaftskrise Griechenlands in den deutschen Massenmedien oft nur noch als ein untergeordneter Aspekt der Flüchtlingskrise.
Der Nachrichtenwert sinkt
Bleiben die öffentlichen Proteste. Viel wurde in den letzten Monaten über Protestbewegungen gegen den Sparkurs verschiedener griechischer Regierungen geschrieben, viele Menschen richteten sich gegen die Auflagen der EU, gegen Korruption, gegen Polizeigewalt. Inzwischen ist es aber ruhiger geworden vor dem Parlament auf dem Athener Syntagma-Platz. Allerdings sieht es so aus, als könnte sich das bald wieder ändern: Es gab Anschläge auf die Lokalbüros der Syriza-Partei. Der jüngste Generalstreik, der erste unter der Regierung von Premierminister Tsipras, legte das Land für einen Tag lahm. Deutsche Medien berichteten, die Tagessschau etwa in der Mittagsausgabe. Aber größeren Nachrichtenwert haben gerade andere Geschichten.
Viel Resignation angesichts der vermeintlichen Unwirksamkeit der Politik
Dafür gibt es Initiativen, die versuchen, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Der Verein „Shedia“ etwa veröffentlicht nicht nur ein monatliches Straßenmagazin in Athen, das von Obdachlosen verkauft wird. Er bietet zudem Stadtführungen an, bei denen aktuelle und ehemalige Wohnungslose bestimmte Orte in der Athener Innenstadt zeigen, die Einheimische zwar kennen, die sie aber bisher nicht beachtet haben: Essensausgaben, die seit Beginn der Krise ihre Kapazitäten vervielfachen mussten, nächtliche Schlafplätze für Wohnungslose, die überfüllt sind, Orte des Drogenkonsums. Mit den Führungen will man die Verarmten aus der Unsichtbarkeit herausholen und sie ihre Geschichte erzählen lassen. Ähnlich wie das Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kunzt, das dem Verein als Vorbild diente, zwingt Shedia damit die Beobachter, Stellung zu beziehen zu den Auswirkungen der Krise um sie herum. Denn eigentlich ist die Krise gerade in Griechenland überall – sie wird eben nur nicht immer wahrgenommen.
Wenn Arne Semsrott nicht für fluter.de schreibt, arbeitet er unter anderem für das Informationsportal Frag den Staat