Wer etwas verändern will, geht ins Internet. So wie Albertus van Butselaar, der sich dort mit Millionen anderen Protestlern in Blogs und auf Mailinglisten die Finger wund tippt. Diskutieren, organisieren, demonstrieren: zum Beispiel gegen Stuttgart 21, Atompolitik oder Walfang – für Klimaschutz oder eine gerechtere Weltpolitik. Die Themen und Angebote sind vielfältig. Auf das Kampagnennetzwerk Avaaz ist Albertus gestoßen, als er über die Abholzung des Regenwaldes recherchierte: „Ihre Idee hat mich sofort angesprochen, da wollte ich mitmachen.“ Avaaz versteht sich als neue, globale Internetbewegung, die Menschen dazu bewegen will, sich politisch einzubringen. „Avaaz“ bedeutet „Stimme“ – in mehreren Sprachen Asiens und Osteuropas. Weltweit erhebt sie sich mit Online-Petitionen, Flashmobs und anderen Aktionen gegen den blutigen Elfenbeinhandel, die Leugnung des Klimawandels und andere Themen, die mit globaler Gerechtigkeit zu tun haben. Die Mission, mit der das Netzwerk 2007 online ging, ist einfach: „Bürgerinnen und Bürger auf der ganzen Welt zu mobilisieren, um gemeinsam die Lücke zwischen der Welt, die wir haben, und der Welt, die wir uns wünschen, zu schließen.“
Cyberaktivisten nutzen E-Mails, Foren, Twitter, Podcasts, Websites oder Wikis, um auf ihre Proteste aufmerksam zu machen. Das verhältnismäßig kleine Team von Avaaz stammt von vier Kontinenten und agiert in 14 Sprachen. Hauptamtliche Mitarbeiter werden aus Spenden finanziert. „Es ist eine neue Protestkultur, bei der orts- und zeitunabhängig Millionen Menschen miteinander agieren“, erklärt Markus Beckedahl, Blogger und Gründer von Netzpolitik.org, die neue Bewegung. So schaltete Avaaz beispielsweise kurz vor der Kabinettsentscheidung über die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke im September 2010 eine ganzseitige Anzeige im „Spiegel“, in der man Bundeskanzlerin Angela Merkel fragte, ob Deutschland zur Geisel der Atomlobby werden wolle. Laut Avaaz wurde die Anzeige durch Tausende Kleinspenden aus Deutschland finanziert. Über 110.000 Menschen sollen die Petition gegen die Laufzeitverlängerung unterschrieben haben.
Knapp zehn Millionen Aktive hat Avaaz nach eigenen Angaben weltweit – etwa 700.000 in Deutschland. „Die meisten haben wir in Frankreich, Brasilien, Indien und in Deutschland, wo wir durch erfolgreiche Kampagnen bekannt geworden sind“, sagt Kampagnenmacher Pascal Vollenweider. Mitglied wird, wer sich für den Newsletter registriert oder Petitionen unterstützt hat und weiterleitet. Menschen wie Albertus, der schon an zig Kampagnen mit seiner Unterschrift mitgewirkt hat. Beim ersten Mal spendete er fünf Euro für die weltweite Aktion „Rettet Sakineh“. Es ging darum, die Iranerin Sakineh Mohammadi Ashtiani vor dem Tod durch Steinigung zu bewahren. Tatsächlich wurde das Urteil Anfang des Jahres in eine mehrjährige Gefängnisstrafe umgewandelt.
„Die Macht des Volkes zeigt ihre Wirkung und wird überall auf der Welt immer deutlicher bemerkbar“, heißt es in einer Mail von Avaaz an die Mitglieder im Juni 2011. Und: dass ihr Erfolg nur möglich sei, weil so viele Mitglieder bei den Kampagnen mit Hoffnung, Energie und Visionen mitmachten und die Nachricht verbreiteten. Ein Blick zurück: Bereits in den Anfängen des Mitmach-Internets Web 2.0 Anfang des neuen Jahrtausends stieg die Zahl politisch aktiver Plattformen, die das Ziel hatten, Beteiligung einfach und spannend zu machen und mehr auf die Kommunikation zwischen Bürgern und politischen Akteuren zu setzen.
Einfach nur gegen etwas zu sein, reicht nicht
Auch US-Präsident Barack Obama verdankt seinen Wahlsieg von 2008 zu einem wesentlichen Teil der Internetgemeinde und dem 1998 gegründeten Kampagnennetzwerk MoveOn.org, das später auch Avaaz und Campact in ihrer Arbeit inspirierte. Campact konzentriert sich auf deutsche Themen. Die feste Basis des aus mittlerweile knapp 500.000 Aktivisten bestehenden, Ende 2004 entstandenen Netzwerks bilden gut 7.700 zahlende Voll- und 12 stimmberechtigte Vereinsmitglieder. Viele der Mitstreiter stammen aus dem Umfeld des globalisierungskritischen Netzwerks Attac. „Campact ist in der deutschen sozialen Bewegung verwurzelt und linksliberal orientiert“, sagt Blogger Beckedahl.
Bei der inhaltlichen Arbeit von Online-Kampagnennetzwerken geht es um Agenda-Setting – also darum, wie ein Thema auf die Tagesordnung gebracht werden kann. Einfach nur gegen etwas zu sein, reicht nicht, um Aufmerksamkeit zu erlangen und geklickt zu werden. Wichtig ist die Botschaft einer Kampagne. Wer zeigt, wie das Handeln des Einzelnen den Status quo verändern kann, animiert Nutzer, sich zu engagieren. „Wir identifizieren den richtigen Moment und müssen eine sinnvolle und attraktive Aktion anbieten, bei der Menschen mitmachen wollen“, sagt Vollenweider von Avaaz. Ein Blogger von Campact, Yves Venedey, ergänzt, dass eine Kampagne Aussicht auf Erfolg versprechen und das Thema skandalisierbar sein müsse. „Außerdem muss in absehbarer Zukunft eine politische Entscheidung anstehen, bei der wir mit unserem Protest einschreiten wollen.“ Dabei sei auch das Layout einer Nachricht wichtig. So brauche es einen kurzen Teaser-Text, und der Link zur Petition dürfe nicht zu weit unten sitzen, weil viele Leser erst gar nicht so weit herunterscrollten. „Außerdem dürfen nicht zu viele Kampagnen auf einmal laufen, weil bei zu vielen Mails der Newsletter auch gerne wieder abbestellt wird“, sagt Venedey.
Jetzt kann man selbst vom Dorf aus Druck machen
Im Gegensatz zu etablierten Organisationen wie Amnesty International, die das Netz ebenfalls für ihre Aktionen nutzen, bieten Online-Kampagnennetzwerke wie Avaaz oder Campact ein flexibles Rundum-Paket. Sie haben mehr Themen und ein breiteres Spektrum an Aktionen im Angebot. Hinzu kommt, dass man nicht erst schriftlich beitreten muss, sondern von Fall zu Fall aktiv werden kann. Es stellt sich nur die Frage, ob das Engagement der Mitglieder nicht unverbindlich und sprunghaft bleibt, wenn es kein Oberthema gibt – wie die Umweltpolitik bei Greenpeace oder die Menschenrechte bei Amnesty. Und: Sind Protestler, die sich online beteiligen, zwangsläufig auch Aktive, die auch auf die Straße gehen?
Kritiker sagen, dass die sogenannten Sofa-Demokraten zwar Petitionen unterschreiben, ihre Energie danach aber verpuffe. Doch wie hoch die Bindung einzelner wirklich ist, ist unklar. „Klickaktivisten gab es in anderer Form auch schon früher. Das waren diejenigen, die in der Fußgängerzone Petitionen gegen Tierversuche unterschrieben und zu Hause auch nicht mehr unbedingt daran gedacht haben“, meint Blogger Beckedahl. Der Online-Protest böte jedoch bessere Möglichkeiten, kurzfristig Aktive zu Langzeitaktivisten zu machen und nachhaltig zu wirken. „Und wer früher in seinem Dorf kaum Möglichkeiten hatte, große Aktionen zu organisieren, kann jetzt mit Leuten aus Rostock oder München Aktionen im Netz planen.“
Mit ein paar Klicks die Welt zu verändern ist nicht einfach. Auch, weil eine elektronische Unterschriftenliste allein nicht ausreicht, um Hunger oder undemokratische Regierungen zu bekämpfen. Der Appell muss raus aus dem Netz auf die Straße. Das wissen auch die Macher von Avaaz und Campact. „Das Wichtigste ist die Übergabe einer Petition, um deutlich zu machen, dass die Unterschriften nicht im schwarzen Loch des Internets verschwunden sind“, sagt Venedey. So wurde die Campact-Petition zum Atomausstieg im Juni 2011 an SPD und Grüne übergeben. Auf diese Art würde Campact Online- und Offline-Kampagnen miteinander verknüpfen und gleichzeitig auf die Kooperation mit anderen Organisationen setzen. „Es geht darum, Bilder für die Medien zu schaffen. Doch müssen wir aufpassen, dass wir dabei nicht zu Statisten auf einem Pressefoto werden“, sagt Venedey. Ihre erfolgreichste Kampagne sei bisher der „Abschalten“- Appell an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewesen, bei dem direkt nach dem Unglück von Fukushima zig Demonstrationen und Menschenketten gestartet wurden und die größte Petition von 318.402 Menschen unterschrieben worden sei.
Ob der Online-Protest gegen die wachsende Politikverdrossenheit hilft? „Das Erstarken der Anti-Atom-Bewegung hier in Deutschland wäre ohne Campact nicht denkbar gewesen, weil es über Instrumente zur Massenmobilisierung verfügt“, sagt Blogger Beckedahl, der keine Politik-, sondern eine Parteienverdrossenheit in Deutschland erkennen kann. Avaaz- und Campact-Mitglied Albertus glaubt, dass durch Online-Kampagnen auch die Menschen aktiv werden könnten, die schon immer den Wunsch gehegt, aber nicht gewusst hätten, wie sie es anstellen sollen. „Und selbst wenn ein Aktivist dabei zu Hause auf seiner Couch sitzen bleibt, denkt er trotzdem darüber nach, für welches Thema er mit seiner Stimme klickt.“
Sit-ins: Der Begriff „Sit-in“ hat nichts mit einem gemütlichen Beisammensein bei Cola und Chips zu tun. Seit den 1960er Jahren bezeichnet er eine Protestform, die Gegner mit viel Sitzfleisch statt mit Gewalt überzeugen soll – damals vor allem im Kampf gegen die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Anstoß war der Protest von vier farbigen Studenten im US-Staat North Carolina, die in einem Fastfood-Restaurant Platz nahmen, das nur Weiße bediente. Dem Beispiel folgten danach immer mehr Schwarze und begründeten damit eine mächtige Bürgerrechtsbewegung.