Israel und Palästina teilen sich einen relativ kleinen Fleck auf der Landkarte. Er ist nur wenig größer als Hessen. Die Geschichte der beiden Nationen wird von denselben Daten und Ereignissen geprägt. Aber in der Interpretation dieser Fakten, also in der Geschichtsschreibung, stehen sich zwei grundverschiedene Sichtweisen gegenüber.

cms-image-000044000.jpg

Wo sich zwei Versionen der Geschichte unversöhnlich gegenüber stehen, ist es schon ein Schritt, sich die andere Seite überhaupt mal anzuhören (Foto: Jim Hollander)

Wo sich zwei Versionen der Geschichte unversöhnlich gegenüber stehen, ist es schon ein Schritt, sich die andere Seite überhaupt mal anzuhören

(Foto: Jim Hollander)

Der israelische Sozialpsychologe Dan Bar-On und der Palästinenser Sami Adwan, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Bethlehem, haben Anfang der 2000er ein Projekt ins Leben gerufen, das an genau diesem Punkt ansetzt. Die beiden Wissenschaftler hatten bei der Durchsicht palästinensischer und israelischer Schulbücher festgestellt, dass die Erfahrungen und das Leid der jeweils anderen Seite darin gar nicht vorkamen. Die Landkarten in den Büchern bildeten die Städte und Dörfer der anderen Nation nicht einmal ab. Kultur und Sichtweisen der Gegenpartei fanden keine Erwähnung.

„In Zeiten von Krieg und Konflikt neigen Gesellschaften dazu, ihre Erzählungen als die einzig richtigen und moralisch überlegenen anzusehen“, resümierte der 2008 verstorbene Bar-On in seinem letzten Buch. Anhand der israelischen und palästinensischen Schulbücher war ihm und seinem Koautor Sami Adwan dies besonders deutlich geworden. Durch die Art der Geschichtserzählung wurden darin immer auch Werte, Ziele und Mythen vermittelt –„Narrative“, wie diese historischen Erzählungen auch bezeichnet werden. Und es zeigte sich, dass diese Narrative die Eigenschaft hatten, das Narrativ der anderen Seite  abzuwerten, es zu entmenschlichen, ja ihr sogar das Recht auf eine eigene Erzählung abzusprechen.

Bar-Ons und Adwans Grundannahme war, dass solche Narrative immer auch als Legitimation des Handelns einer Regierung dienen können. Auch deshalb wollten sie einen Gegenpol schaffen – ein Projekt, das die andere Seite gleichermaßen zu Wort kommen lässt und beide Seiten der Medaille sichtbar macht. Und sie wollten dabei im Bildungskontext ansetzen, wo Jugendliche bis heute oft ein Bild der „Anderen“ vermittelt bekommen, das die Züge eines Feindbildes trägt.

Die Entstehung des Schulbuches ist eng an die Freundschaft zwischen Dan Bar-On und Sami Adwan und ihre eigenen Lebensgeschichten gekoppelt. Bar-Ons jüdische Familie emigrierte 1933 aus Hamburg nach Israel. Er lebte viele Jahre in einem Kibbuz, bevor er sein Psychologiestudium begann. Sami Adwan hingegen wuchs im Westjordanland unter der israelischen Besatzung auf, studierte Erziehungswissenschaften in Jordanien und den USA und kam schließlich nach Palästina zurück, wo er Mitglied der palästinensischen Partei Fatah wurde. Die beiden begegneten einander erstmals 1995 im Rahmen eines europäischen Forschungsprojekts. Aus der Bekanntschaft entwickelte sich bald eine produktive Zusammenarbeit, die mit einer Studie zur Bedeutung der nationalen Geschichte für Jugendliche begann.

Später gründeten sie gemeinsam PRIME, das „Peace Research Institute in the Middle East“. Das Schulbuchprojekt, das den Titel „Das historische Narrativ des Anderen kennenlernen“ bekam, sorgte für Aufsehen. Von seiner Idee und Struktur her ist es im Grunde simpel: Auf der linken Seite steht das israelische Narrativ, auf der rechten das palästinensische – dazwischen gibt es Platz für eigene Gedanken. Dieselben Zeitperioden werden nicht nur inhaltlich unterschiedlich dargestellt, sondern auch mit verschiedenen Formaten und Schwerpunktsetzungen innerhalb der Kapitel –  mal sind es Gedichte, mal Fotos, mal präzise aufgestellte Daten.

cms-image-000044002.jpg

ennenlernen“ werden die israelische und die palästinensische Lesart der Geschichte gleichberechtigt nebeneinander dargeboten (Foto: Mohamad Torokmann / REUTERS)

In dem Schulbuch „Das historische Narrativ des Anderen kennenlernen“ werden die israelische und die palästinensische Lesart der Geschichte gleichberechtigt nebeneinander dargeboten

(Foto: Mohamad Torokmann / REUTERS)

Das wohl markanteste Beispiel dafür, dass Palästinenser und Israelis in Bezug auf ein historisches Ereignis zu völlig verschiedenen Wahrheiten kommen, ist der 14. Mai 1948, der Gründungstag des Staates Israel. Für die Israelis ist er ein Nationalfeiertag, der „Unabhängigkeitstag“. In Palästina hingegen gleicht er eher einem Volkstrauertag, an dem der vielen Flüchtlinge gedacht wird. Dort wird er als „Nakba-Day“ bezeichnet, was so viel bedeutet wie „die Katastrophe“. Die ersten jüdischen Einwanderer nach Palästina werden in israelischen Texten zumeist als „Pioniere“ bezeichnet, während in den palästinensischen Texten oft von „Gangs“ und „Terroristen“ die Rede ist. Dagegen kommt der Holocaust in palästinensischen Geschichtsbüchern überhaupt nicht vor. Die Liste könnte endlos fortgeführt werden.

Bar-On schrieb im Jahr 2004, es sei nicht möglich, aus den beiden konfliktreichen Erzählungen eine überbückende Version zu konstruieren. Doch bei dieser Unmöglichkeit wollten es Bar-On und Adwan nicht einfach belassen. Sie empfanden das Schulbuchprojekt als eine der wenigen „Inseln der Vernunft“. In Israel und Palästina gibt es zahllose Friedens- und Dialogprojekte, die sich auch gegenseitig häufig kritisieren. Das Schulbuch von Bar-On und Adwan war eine der wenigen Ausnahmen. Es stieß in Israel und Palästina auf breite Anerkennung in der Friedensbewegung. Dem Minenfeld der Wahrheiten, das der Nahostkonflikt ist, waren sie durch die  Gleichberechtigung der Perspektiven entkommen. Sie versuchten nicht, die „richtigere“ Version der Wahrheit herauszufinden und sie fragten auch nicht danach, wer Schuld hat.

Was in der Friedensbewegung im Nahen Osten und in Unterstützerkreisen im Ausland große Anerkennung fand, wurde von den zuständigen Regierungen Israels und Palästinas indessen nicht gern gesehen. „Die akademische Karriere der beiden hat großen Schaden genommen“, sagt Sakino Sternberg, die lange mit beiden befreundet war und in Berlin das Dan Bar-On International Dialogue Center (IDC) leitet, das sich für Friedens- und Dialogprojekte engagiert. Die Regierung Israels und auch die Palästinensische Autonomiebehörde hielten wenig von den Schulbüchern. Sie wurden von den jeweiligen Bildungsministerien für den Unterricht verboten. Einige Lehrer arbeiten entweder heimlich oder außerhalb des offiziellen Unterrichts damit.   

cms-image-000044001.jpg

Das Geschichtsbuch wurde von den Bildungsministerien beider Seiten verboten. Einige Lehrer arbeiten jedoch heimlich oder außerhalb des offiziellen Unterrichts damit (Foto: Martin Lengemann)

Das Geschichtsbuch wurde von den Bildungsministerien beider Seiten verboten. Einige Lehrer arbeiten jedoch heimlich oder außerhalb des offiziellen Unterrichts damit

(Foto: Martin Lengemann)

Eine Klasse der Sha’ar Hanegev High School war besonders wütend über die Entscheidung. Die Klasse hatte bereits mit dem Buch gearbeitet, als dieses verboten wurde. Die Schüler verlangten laut einem Bericht der israelischen Zeitung „Ha’aretz“ eine Erklärung des Bildungsministeriums, das sich in seiner Anwort jedoch hinter bürokratischen Formulierungen versteckte. Die Schüler nannten die Entscheidung laut „Ha’aretz“ „feige“.

Das komplette, ungefähr 300 Seiten umfassende Geschichtsbuch „Das historische Narrativ des Anderen kennenlernen“ wird momentan unter der Federführung von Sakino Sternberg im IDC ins Deutsche übersetzt und soll hierzulande voraussichtlich im März 2015 erscheinen.

Marlene Roiser ist Praktikantin bei fluter.de und war selbst für einige Monate in Israel und Palästina unterwegs. Sie studiert Friedens- und Konfliktforschung und hat eine schräge Faszination für verfeindete Gruppen und die Subjektivität von Wahrheit.


cms-image-000044003.jpg

cms-image-000044003.jpg (foto: ullstein bild)
(foto: ullstein bild)

Das gegenseitige Erzählen der Lebensgeschichte unter Feinden hilft, Traumata und Narben der Vergangenheit aufzuarbeiten. Das ist die Grundannahme, die Bar-Ons Methode des Storytellings als Instrument der Konfliktbearbeitung zugrunde liegt. In Israel hat er damit immer wieder Kritik geerntet. In den 80er-Jahren sorgte er für Diskussionen, weil er in Deutschland Kinder von Nazi-Tätern interviewt und Anfang der Neunzigerjahre mehrere Treffen von Opfer- und Täter-Nachfahren organisiert hatte, die sich gegenseitig ihre Familiengeschichten erzählten. Auch wenn das Schulbuchprojekt in Israel und Palästina gescheitert ist, im Ausland hatte Bar-On mit seiner Storytelling-Methode einigen Erfolg. Die Methode findet inzwischen auch in anderen Konfliktgebieten wie dem Kosovo oder Nordirland Anwendung
.