Das Netzwerk „European Alternatives“ setzt sich für Demokratie, Gleichheit und Kultur jenseits nationalstaatlicher Grenzen ein. Dabei soll anhand konkreter Beispiele aufgezeigt werden, welche Ideen und Initiativen ein zukunftsfähiges Europa ausmachen können. In ihrem neuen Buch „Shifting Baselines of Europe“ hat „European Alternatives“ Aktivisten, Journalisten, Wissenschaftler und Politiker aus über zehn Ländern zu ihren Vorschlägen befragt und die sogenannten Rebel Cities wie Neapel, Messina und Barcelona untersucht.
Fluter.de: Wie kam es zu eurem Buch „Shifting Baselines of Europe“?
Lukas Stolz: Alle sprechen und schreiben über die Krise der EU. Es läuft ja auch einiges falsch. Uns interessierte, was es im Schatten der Krisendiskussion bereits an innovativen Antworten und Projekten gibt: Viele südeuropäische Städte versuchen sich in solidarischer Politik trotz der Sparauflagen der Troika, in Polen organisieren Aktivist*innen erfolgreiche Massenproteste gegen Gesetze der rechtskonservativen Regierung, die Commons-Bewegung entwickelt Strategien für eine solidarische Wirtschaft, „Stop-TTIP“ hat länderübergreifend Millionen von Menschen gegen intransparente Handelsverträge mobilisiert …
Daphne Büllesbach: Die europäische Zivilgesellschaft ist schon sehr viel weiter, als es die Krisengespräche über Europa suggerieren. Es gibt bereits ein solidarisches Europa, das jenseits von nationalstaatlichen Grenzen funktioniert. Dieses Europa wollten wir in einem Buch vorstellen, weil es unserer Meinung nach im aktuellen Diskurs noch zu wenig beachtet wird.
Lukas Stolz: Gerahmt werden die Projekt-Porträts und Interviews durch theoretische Beiträge, zum Beispiel von der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Sie schlägt vor, Europa als Republik der Bürger*innen zu betrachten, und sie zeigt auch, welche institutionellen Änderungen für einen demokratischen Umbau der EU nötig wären.
Welche Stadt wollen wir? Wie wollen wir leben? Wie wollen wir unser Programm einer anderen Art des Regierens wählbar machen?
Ein thematischer Schwerpunkt eures Buches sind die sogenannten Rebel Cities. Was macht eine rebellische Stadt aus?
Daphne Büllesbach: Die Bezeichnung „Rebel Cities“ beschreibt einen Zusammenschluss von Städten, dem etliche der großen Städte Spaniens angehören, aber auch italienische Städte wie Neapel oder Messina. Am besten lässt sich das, was dort passiert, wahrscheinlich am Beispiel Barcelonas erklären: Dort wurde 2015 Ada Colau zur Bürgermeisterin gewählt. Eine Aktivistin, die sich gegen Zwangsräumungen eingesetzt, Banken besetzt und Straßenproteste organisiert hat, regiert also jetzt zusammen mit vielen anderen Aktivist*innen die zweitgrößte Stadt Spaniens. Das ist eine kleine Revolution.
Und was machen diese Stadtregierungen anders?
Daphne Büllesbach: Ein Grundelement der Bewegungen Occupy, ¡Democracia Real Ya! und Nuit Debout wurde konkret auf Stadtpolitik übertragen: offene Versammlungen, die von allen Bewohner*innen besucht werden können. Dort wurde sehr grundsätzlich diskutiert: Welche Stadt wollen wir? Wie wollen wir leben? Wie wollen wir unser Programm einer anderen Art des Regierens wählbar machen? Es geht also nicht nur um eine Veränderung der politischen Programme, sondern um ein Update der politischen Verfahrensweisen. Heute, nachdem einige Städte von Plattformen der Zivilgesellschaft regiert werden, schließt sich nun die Frage an: Wie ändern wir die Institutionen von innen – und wie stehen wir jetzt zu denen, die weiterhin außerhalb von ihnen agieren?
„Pulse of Europe“, eine 2016 gegründete pro-europäische, parteienübergreifende Bürgerinitiative, wird in eurem Buch nicht erwähnt. Warum nicht?
Lukas Stolz: Als wir das Buch geplant haben, gab es „Pulse of Europe“ noch gar nicht. Ich finde auch interessant, dass „Pulse of Europe“ gerade als die pro-europäische Bewegung wahrgenommen wird, obwohl es sich vor allem um ein deutsches Phänomen handelt. Unabhängig davon glauben wir, sie sollten noch wesentlich mutiger sein, was die Forderungen angeht …
Daphne Büllesbach: Die haben überhaupt keine konkreten Forderungen.
Und das kritisiert ihr?
Daphne Büllesbach: Als Gegenentwurf zu Pegida finde ich das gut. Dass Menschen für etwas auf die Straße gehen, ist schön, hat aber über die Symbolwirkung hinaus wenig politische Kraft. Von „Pulse of Europe“ unterscheidet uns eine explizite Regierungskritik. Wenn es um die EU geht, ist für uns klar: Die in über 60 Jahren gewachsenen Institutionen sind nicht mehr in der Lage, den Herausforderungen zu begegnen, denen wir heute gegenüberstehen: Europa wird von den Staats- und Regierungschefs, ausgehend von jeweiligen nationalen Interessen, quasi nebenbei regiert. Das funktioniert nicht – siehe Einwanderungspolitik, Steuerpolitik oder Umweltpolitik. Auch Merkel ist irgendwie für Europa, aber das ist ja nicht der Punkt. Wir müssen uns wirklich mit der Frage auseinandersetzen: Welches Europa wollen wir?
Europa als politischer Raum jenseits nationaler Identitäten
Was ist denn für euch das beste Europa, das ihr euch jetzt schon vorstellen könnt?
Daphne Büllesbach: Auf jeden Fall ein Europa „below and beyond the nation state“, also ein politischer Raum jenseits nationaler Identitäten. Ein Rahmen, der es erlaubt, neue Formen demokratischer und solidarischer Politik zu entwickeln, in denen die Menschen an den Entscheidungen beteiligt sind, die sie selber betreffen. Ein Europa, das sich die Erfahrungen der Rebel Cities zum Vorbild nimmt.
Lukas Stolz: Und ein Europa, das sich nicht zunehmend abschottet, wie es momentan der Fall ist, sondern ein Europa der offenen Grenzen, der offenen Gesellschaften und letztlich auch der offenen Identitäten. Ein Europa, das sich seiner selbst nicht zu sicher ist und es auch aushält, die Frage nach dem, was es sein könnte, immer wieder neu zu stellen.
Daphne Büllesbach ist Direktorin des Netzwerks „European Alternatives“. Außerdem kuratiert sie das Transeuropa Festival, das alle zwei Jahre um Kunst, Kultur und Politik zusammenbringt.
Lukas Stolz ist bei European Alternatives für Sonderprojekte zuständig. Seine Forschunginteressen liegen an der Schnittstelle von Politik, Kulturtheorie und Kunst.
Foto: Jörg Brüggemann / OSTKREUZ