Der amerikanischen Schriftstellerin Erica Jong waren die Deutschen nicht geheuer. In ihrem Bestseller „Angst vorm Fliegen“ schrieb sie 1973: „Ich hasste die Deutschen dafür, dass sie immer an ihre verdammten Mägen denken, an ihre Gesundheit – als hätten sie Gesundheit, Hygiene und Hypochondrie erfunden.“ Besonders ekelte sie sich vor dem stillen Örtchen: „Betreten Sie mal in Deutschland eine öffentliche Toilette, und Sie werden eine Anlage vorfinden, wie sie es sonst auf der Welt nicht gibt. Die reizende, für die fallende Scheiße bestimmte kleine Porzellanplatte (damit Sie erstere begutachten können, bevor sie auf Nimmerwiedersehen in den gurgelnden Schlund wirbelt) ist so gut wie trocken, ehe Sie ziehen.“

Jahrzehnte später wunderte sich auch der slowenische Philosoph Slavoj Zizek über die drei unterschiedlichen Toilettentypen in Europa. Die französische Toilette hat eine kleine Fläche vorne und ein wassergefülltes Abflussloch hinten – damit die Exkremente schon verschwunden sind, bevor wir die Spülung betätigt haben. Beim britischen Modell treiben alle Fäkalien zunächst in einem See von Wasser – sie bleiben sichtbar, für den Fall der Fälle, bieten sich aber nicht zur näheren Betrachtung an. Und dann gibt es noch die Toilette deutschen Typs, bei der es sich genau umgekehrt verhält. Hier ist das Loch vorne und die Ablagefläche hinten, „so dass die Exkremente vor uns liegen, um beschnuppert und untersucht zu werden auf mögliche Hinweise für eine Krankheit“ (Slavoj Zizek).

Beide Beispiele umkreisen – wie fröhliche Fliegen die Schüssel – ein seltsames Phänomen, das als „German Angst“ in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. Damit wird im Ausland eine offenbar typisch teutonische Furcht oder auch Zögerlichkeit bezeichnet – zu der eben auch gehört, die eigenen Fäkalien nicht direkt zu entsorgen, sondern zum begrübelnswerten Gegenstand sorgenvoller Betrachtungen zu machen. Die Angst hat als Germanismus längst Eingang ins Englische gefunden, wie „Waldsterben“ oder „Weltschmerz“. Alles Begriffe, die nicht eben für ausgelassene Lebensfreude stehen.

Sind solche völkischen Zuschreibungen überhaupt gültig? Sind Schotten überwiegend geizig, Polen diebisch, Iren betrunken, Franzosen paarungsbereit, Finnen trübsinnig und Griechen faul? Eben. Und dennoch neigen wir zur Annahme, an der „German Angst“ könnte etwas dran sein. Zumal es wissenschaftliche Studien gibt, die uns in dieser Ahnung bestärken. Der „Security Index“ des IT-Dienstleisters Unisys beispielsweise misst halbjährlich das subjektive Sicherheitsempfinden der Konsumenten verschiedener Länder. Abgefragt werden mögliche Furchtfelder wie Gesundheit, Beruf, Politik oder Kriminalität. Ein Wert von 300 würde absolute Panik bedeuten, Deutschland liegt mit aktuell 146 Punkten nicht etwa im Mittelfeld, sondern nur knapp hinter anderen extrem furchtsamen Nationen wie Mexiko, Malaysia, Kolumbien oder Frankreich.

Weitere Indizien liefert das Versicherungswesen, weil die Deutschen von der Geburt bis zum Tod einfach alles versichern, was sich nur irgendwie versichern lässt. Darüber hinaus fürchten sich die Deutschen wie kein zweites Volk vor Datenkraken, Geheimdiensten, Seuchen und Naturkatastrophen. 

Wenn es so ist, warum ist es so? Wieso sollte die Mutlosigkeit gerade in einer der reichsten Gesellschaften der Erde so hoch sein? Eine Erklärung lieferte die Journalistin Silke Bode in ihrem Buch „Die deutsche Krankheit“. Demnach sollen „unverarbeitete Kriegserlebnisse“ dafür verantwortlich sein. Eine ganze Generation habe Leid und Schuld „nicht ausreichend betrauert“ und deshalb Existenzängste an ihre Kinder und Kindeskinder weitergegeben. Diese Ängste seien nur vorübergehend von der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik und der sozialistischen Staatsfürsorge in der DDR abgefedert worden.

Flankiert werden solche psychoanalytischen Vermutungen von den neuesten Erkenntnissen der Epigenetik. Studien belegen offenbar, dass traumatische Erfahrungen zu genetischen Veränderungen führen und diese auch vererbt werden können. Dazu wurden unter anderem Augenzeugen von 9/11 und dem Völkermord in Ruanda befragt. Irritierend bleibt aber die Annahme, ausgerechnet die Deutschen müssten vom Zweiten Weltkrieg bis in den Genpool hinein verstört sein. Was wäre denn dann mit den Polen? Und was mit der jüdischen Bevölkerung? Und warum nur der Zweite Weltkrieg? Haben unsere Gene den Dreißigjährigen Krieg vergessen? Triftig sind solche Erklärungen aus dem Reagenzglas also nicht. 

Es könnte auch einfach Ideologie am Werk sein. Denn die „German Angst“ kommt nicht allein, es gibt noch ein anderes Klischee über uns, das sich ständig erneuert – mit jedem deutschen Auto, das vom Band läuft, und jedem Spiel, das die DFB-Elf gewinnt. Die Rede ist von der „deutschen“ Gründlichkeit, Ordnungs­liebe und Disziplin. Vielleicht sind diese Sekundärtugenden nur die Kehrseite unserer Angst. Der Blick in die Toilette immerhin lehrt uns: Wir zweifeln nicht mehr so viel wie früher – der Flachspüler ist eine Seltenheit geworden.

Bilder: Heinrich Holtgreve