Was für ein Film aus diesem Buch werden könnte! Da würde es leuchten, blitzen, knistern, knattern und lichterloh brennen. Denn in „Die Gabe“ geht es um Elektrizität. „The Power“ heißt der Roman der britischen Autorin Naomi Alderman im Original; und das bedeutet im Englischen eben nicht nur „Macht“ und „Stärke“, sondern auch „Strom“. In Aldermans Roman sind all diese Dinge vereint in einem Organ, das „der Strang“ genannt wird und das den Frauen ganz plötzlich eines Tages zwischen den Schlüsselbeinen wächst. Nicht allen Frauen zunächst, sondern nur jungen Mädchen und weiblichen Neugeborenen. Doch können junge Frauen ihre Gabe an ältere weitergeben – die Fähigkeit nämlich, mit Hilfe ihres „Strangs“ gezielte Stromstöße zu verabreichen.
Tja, was wäre, wenn es dieses sehr spezielle weibliche Organ wirklich gäbe? Dann wären Frauen das stärkere Geschlecht. Und was würde das für die gesellschaftlichen Machtverhältnisse bedeuten? „Die Gabe“ entwickelt aus dieser Frage das spannende Szenario eines Romans mit Fantasy- und Science-Fiction-Elementen.
Vier Hauptfiguren, drei davon weiblich und eine männlich, stehen im Zentrum des Geschehens – oder der Geschehen; denn wenn allen jungen Frauen auf einmal ein neues Strom-Organ wächst, müssen die Auswirkungen natürlich weltweit zu spüren sein. Für diese globale Perspektive ist Tunde zuständig, ein junger Journalist aus Nigeria, der als sehr junger Mann bei einem Annäherungsversuch an ein Mädchen im wahrsten Wortsinne abblitzt. Als er kurz darauf eine Kampfszene zwischen zwei jungen Frauen im Supermarkt beobachtet, weiß er, dass etwas Außergewöhnliches im Gange ist, und geht mit der Kamera auf Bilderjagd. Es gelingt ihm, ein erstes Video an CNN zu verkaufen. In den folgenden Jahren wird er zu einem international bekannten Reporter, der überall auf der Welt die gesellschaftlichen Veränderungen dokumentiert, die durch den weiblichen „Strang“ auf einmal stattfinden.
In parallelen Erzählsträngen werden derweil die Geschichten der drei weiblichen Hauptpersonen entwickelt: zum einen die Geschichte der jungen Amerikanerin Allie, die ihren Pflegevater umbringt, als der sie vergewaltigen will. Auf der Flucht entdeckt Allie bei sich die Fähigkeit, mit gezielt eingesetzten Stromdosen andere Lebewesen unmerklich zu beeinflussen. Als „Mother Eve“ wird sie zur Begründerin einer neuen Kirche. Zum anderen verfolgen wir die märchenhafte Karriere der jungen Engländerin Roxy, die mit einem enorm starken Strang gesegnet ist und mit einem Gangsterboss als Vater. Dessen Geschäfte übernimmt sie als Erwachsene und zieht dabei fatalerweise den Neid ihres Bruders auf sich. Die dritte weibliche Hauptfigur ist eine amerikanische Politikerin, die von ihrer Tochter die „Gabe“ übernommen hat und damit einen unerwartet großen Karrieresprung machen kann.
Das meinen Sie doch nicht ernst, Mrs. Alderman?
Im Laufe des Romans wird die Handlung rasanter, aber auch abstruser – die Erzählstränge laufen aufeinander zu und enden verknäult in einem Bürgerkriegsland im Kaukasus, wo eine Armee von Männerrechtlern gegen ein Feminazi-Regime kämpft. Blutige Merkwürdigkeiten geschehen. Allmählich beginnt man sich zu fragen, ob das Aldermans Ernst sein kann… und findet die Erklärung in der nachgereichten Rahmenhandlung, die in einem fiktiven Mailwechsel zwischen der Autorin und dem eigentlichen, ebenso fiktiven Autor des Romans besteht. Das ist Naomi Aldermans eigentlicher Geniestreich: Diese ganze verrückte Story, so offenbart der Dialog, ist der Phantasie eines gewissen Neil entsprungen, der damit ein Szenario entwirft, wie die Geschichte vor dreitausend Jahren abgelaufen sein könnte, als die Frauen die Macht auf der Erde übernahmen. Die Naomi in diesem Mailwechsel sieht allerdings Neils Überzeugung, dass zuvor die Männer das herrschende Geschlecht gewesen seien, mit großer Skepsis…
Mit diesem doppelten Boden entzieht die Autorin sich einerseits der Verantwortung für ihre Geschichte. Andererseits wirft sie aber dadurch – auch weil das Machtgefälle zwischen Naomi und Neil nur angedeutet ist, wir also nur erahnen, wie das Leben in einer weiblich bestimmten Welt aussieht – um ein paar grundlegende Fragen auf: Wäre die Welt wirklich besser, wenn Frauen das starke Geschlecht wären? Muss es für die Menschen der fernen Zukunft wirklich noch von Bedeutung sein, welches Geschlecht die größere physische Power hat? Wäre nicht vielleicht auch eine Welt denkbar, in der, ungeachtet aller körperlichen Unterschiede, Frauen und Männer überall als sozial gleichberechtigt betrachtet und behandelt werden? Diese Option scheint Aldermans Roman nämlich nicht zu eröffnen. Menschen tun anderen Menschen darin das an, was sie können. Alle Menschen. Und deshalb wird immer das stärkere Geschlecht über das schwächere herrschen. Ein frustrierend pessimistischer Ausblick. Aber, Ms. Alderman, das meinen Sie doch nicht wirklich ernst, sondern nur polemisch. Oder?