Worum geht’s?
Um die Aktivistengruppe ACT UP, die in Paris seit 1989 gegen Aids kämpft. Damals infizieren sich allein in Frankreich jährlich beinahe 6.000 Menschen mit HIV, dennoch unternimmt die Regierung wenig. Es findet kaum Aufklärung über Sexualität und Drogenkonsum an Schulen statt, es gibt zu wenig wissenschaftliche Förderung und so gut wie keine Debatten in der Öffentlichkeit. Die Krankheit ist ein Tabuthema. Oder sie wird als persönliche Schuld der Betroffenen abgetan.
Die Aktivisten wollen das ändern und machen sich für einen anderen Umgang mit der Krankheit und die Rechte von HIV-Positiven stark. Friedlich, mit Bannern auf Demos – „Versteht ihr nicht, dass wir verrecken?“ rufend. Oder weniger friedlich mit Kunstblut-Attacken in den Zentralen von Pharmakonzernen, die wichtige Forschungsergebnisse zu HIV und Aids unter Verschluss halten. Massenmedien sollten die Aktionen der Aktivisten aufgreifen und so die Meinungsbildung vorantreiben.
Was soll uns das sagen?
Wie schwer es dieser ersten Generation schwuler Männer, die von Aids betroffen war, fiel, weder an der Krankheit noch an der Ignoranz von Gesellschaft und Politik zu verzweifeln.
Wie wird erzählt?
Mithilfe von Nathan. Als der Mittzwanziger der Gruppe beitritt, wird ihm beigebracht, wie das Aktivist-Sein funktioniert. Immer wieder kehrt die Kamera mit ihm in einen hellen Hörsaal zurück. Die Sitzreihen sind voller junger Männer und Frauen, die meisten haben Aids. Hier findet ein reger Schlagabtausch statt – zehn Minuten lang wird über den richtigen Slogan für die nächste Gay Pride diskutiert. Womit erreichen wir am meisten Aufmerksamkeit? Wie sehr wollen wir schockieren? Der Film nimmt sich viel Zeit dafür. Passend dazu folgt die Kamera intuitiv, wackelt, ohne zu irritieren.
Manchmal versprühen die Aktivisten eine gewollte, inszenierte Coolness – rauchend, in Lederjacke. Was dem Film etwas Selbstironisches gibt, ohne aber den Ernst des Themas aus den Augen zu verlieren. Denn schon bald rückt die Krankheit selbst in den Vordergrund. Nathan ist verliebt. Sein Freund Sean hat Aids, und es geht ihm zunehmend schlechter. Alle paar Stunden muss Sean AZT-Tabletten schlucken. Er bekommt schmerzhafte Beulen an den Füßen, liegt im Krankenhaus und kann den Sinn der Aktivistengruppe, kurz vorm Tod, nicht mehr nachvollziehen. Auch optisch macht Regisseur Robin Campillo die Veränderung für den Zuschauer spürbar – die Bilder werden langsamer, alles Licht wird nach und nach aus den Bildern gesogen.
Beste Szene
Als die beiden Männer im Bett liegen und sich von ihren ersten Beziehungen mit Männern erzählen: Wie sie in den 1980er-Jahren noch kaum etwas über die Krankheit wussten, wie sie diese zunächst nicht einschätzen konnten. Wie Nathan für fünf Jahre aufgehört hat, Sex zu haben. Und wie Sean ihn deshalb für „verrückt“ erklärt.
Bester Dialog
Nathan: „Was machst du eigentlich beruflich?“
Sean: „Beruflich? Ich bin HIV-positiv, mehr nicht.“
Hingucker
Wie die Treffen der Aktivisten ablaufen. Wer sehen möchte, wie eine linke, inklusive und geschlechtergerechte Diskussion aussehen kann – „120 BPM“ zeigt’s. Ein Aktivist choreografiert die Diskussionen mit strengem Blick. Jeder bekommt die gleiche Redezeit. Keiner darf applaudieren. Es wird nur geschnipst, um den Redefluss beizubehalten. Außerdem gibt es Gebärdendolmetscher. Klingt streng, funktioniert aber (meistens).
Good to know
Die Aktivistengruppe ACT UP Paris, deren Vorbild 1987 in New York gegründet wurde, gibt es immer noch. Aids ist nach wie vor eine der tödlichsten Krankheiten weltweit. Im Jahr 2016 waren weltweit insgesamt rund 36,7 Millionen Menschen mit HIV infiziert. Der Aktivismus selbst hat sich inzwischen aber verändert. Soziale Medien und die Verbreitung von Infos über das Netz spielen eine immer größere Rolle. So findet ein intensiver, weltweiter Informationsaustausch über Aids statt. Auch in Ländern, in denen die Bekämpfung von Aids und Homophobie kaum vorankommt.
Ideal für …
… alle, die am Welt-Aids-Tag am 1.12. einen aufwühlenden, spannend inszenierten, fast dokumentarischen Spielfilm zum Thema sehen wollen.
„120 BPM, Frankreich 2017; Buch und Regie: Robin Campillo; mit: Nahuel Perez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel, 143 Minuten