fluter.de: In „Aggregat“ sieht man Gespräche zwischen Politiker/-innen und Bürger/-innen, Journalisten bei einer Reportage, eine Pegida-Demo und vieles mehr. Wie würden Sie selbst zusammenfassen, worum es in Ihrem Film geht?
Marie Wilke: Der rote Faden des Films ist für mich eine Auseinandersetzung mit Demokratie: Wie drückt sich Demokratie aus in Handlungen und im Sprechen? An welchen Orten wird sie praktiziert oder verhandelt? Ausgangspunkt für diese Fragen war meine praktische Erfahrung als Cutterin beim Fernsehen. Mich hat interessiert, wie Medien Politik vermitteln, welche Entscheidungen dort getroffen, welche Dramaturgie und welche Bilder dafür verwendet werden. Ein Film darüber sollte aber auch zeigen, welche Rolle Politiker/-innen und Bürger/-innen in diesem Prozess einnehmen.
Waren die politischen Entwicklungen der letzten Jahre der Anlass, einen Film über Demokratie zu machen?
Zur Zeit der Recherche für „Aggregat“ spielten Pegida und die AfD noch keine große Rolle. Als wir zu drehen anfingen, hatte sich die politische Lage verändert. Das hat den Film dann thematisch geprägt. Der Umgang von Politik und Medien mit dem Rechtspopulismus ist deshalb ein reichhaltiges Thema, weil sich dabei alle Beteiligten auch mit sich selbst beschäftigen. Genau diese Situationen, in denen Leute über ihre eigene Rolle nachdenken, wollte ich aufnehmen.
In einem Teil des Films sieht man auch eine Pegida-Demonstration. Was war Ihr Ansatz beim Drehen an diesem Tag?
Dazu muss ich sagen, dass die allererste Szene des Films am selben Tag gedreht wurde: Am 3. Oktober 2016 fanden in Dresden die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit statt. Mein Fokus an diesem Tag war das Zelt des Deutschen Bundestags, wo den ganzen Tag ein Parlament simuliert wurde und die Bürger/-innen mitmachen konnten. Die Demonstration wurde dann spontan veranstaltet, nur 100 Meter davon entfernt. Was ich an dieser Szene auffällig fand, war die entfesselte Wut der Menschen – im Kontrast zu den Abgeordneten, die auf Workshops einen möglichst rationalen Umgang mit Rechtspopulisten üben.
Diese Wut richtet sich auf der Demo vor allem gegen die Medien. Wie konnten Sie denn in dieser Situation aufnehmen?
Wir haben am Anfang mitten in der Menschenmenge gedreht, während andere Medienvertreter/-innen hinter einem Zaun standen und von dort sozusagen die „Masse“ filmten. Dass wir mitten in der Demo waren, hat die Leute ein wenig irritiert, aber man hat uns größtenteils gelassen. Ich wollte in der Situation unbedingt, dass man die Interaktion zwischen Presse und Demonstrierenden sieht.
In mehreren Szenen gibt der Film Einblicke in die journalistische Arbeit.
Auch für Medienschaffende waren die vergangenen Jahre eine Zeit des Umbruchs. Ich hatte den Eindruck, dass eine gewisse Unsicherheit darüber, wie etwa über die „neue Rechte“ zu berichten sei, in den Redaktionen zur Folge hatte, über die eigene Arbeit neu nachzudenken. Man sieht das etwa in der Taz-Szene. Ein bestimmtes Maß an Transparenz kann nur gut sein, also zu zeigen, dass etwas in der Berichterstattung schiefgeht oder Politiker/-innen an ihrer Arbeit zweifeln. Viele Menschen wissen vielleicht auch nicht genug darüber, wie Nachrichten und TV-Berichte entstehen.
Sie sagen selbst: „‚Aggregat‘ ist keine Erzählung.“ Warum war es Ihnen wichtig, einen narrativen Zusammenhang zu vermeiden – selbst zwischen Szenen vom selben Tag und Ort?
Im Schnitt hingen die Szenen zunächst noch zusammen. Dann entstand aber etwas, das ich dem Gegenstand nicht angemessen fand: Die Schnitte wirkten oftmals wie eine Art Kommentar auf die vorherige Szene. Wenn Demokratie der rote Faden des Films ist, wüsste ich auch gar nicht, was die große Erzählung darüber sein sollte. Mich hat eher interessiert, wie bestimmte Narrative über Demokratie gemacht werden. Ich fand es deshalb besser, die Szenen auch zeitlich nicht hierarchisch anzuordnen, sondern nebeneinanderzustellen: Der Film ist eher eine Art Sammlung als eine Erzählung.
Sie haben etwa 80 Stunden Material gedreht. Die Auswahl für 90 Minuten Film ist sicher nicht leichtgefallen. Können Sie drei Szenen nennen, die es am Ende nicht in den Film geschafft haben?
Wir haben noch mit einer Abgeordneten der Grünen und bei einem Arbeitskreis der grünen Bundestagsfraktion gedreht. Ich hatte anfangs die Idee, auch die anderen Parteien im Film zu begleiten. Dann gab es noch zwei Szenen mit jüngeren Menschen: eine große Gegendemonstration beim AfD-Parteitag in Köln und ein Demokratieplanspiel mit 16-jährigen Schüler/-innen im Bundestag. Bei dem Planspiel agieren die Jugendlichen als Parlamentarier verschiedener Parteien und müssen einen Gesetzentwurf durchbringen. Alle drei Szenen waren spannend, haben aber letztlich keinen Platz in der Dramaturgie des Films gehabt.
Marie Wilke ist Regisseurin, Autorin und Editorin. Seit 1999 realisiert sie eigene Dokumentarfilme. „Aggregat“ ist nach „Staatsdiener“ (2015) ihr zweiter Kinofilm.
Dieses Interview ist eine leicht gekürzte Fassung aus dem Kinofenster, dem filmpädagogischen Onlineportal der BpB. Hier findest du noch viel mehr über „Aggregat“: eine Rezension, eine Analyse des Schnitts und einen Hintergrundtext, der der Frage nachgeht, wie Politik, Kommunikation und Medien zusammenhängen.
Titelbild: Zorro Film