Anfangs halten die Eltern Sonias Verhalten noch für die Trotzreaktion eines Teenagers. Bis eines Nachts ein Sondereinsatzkommando der Polizei die Familie aus dem Schlaf reißt. Sonia wird ein Sack über den Kopf gestülpt und die 17-Jährige ohne eine Erklärung in Gewahrsam genommen. Erst allmählich erfahren die Eltern vom geheimen Leben ihrer Tochter, das sich unbemerkt vor ihren Augen abspielte.
Sonia hat sich dem Dschihad angeschlossen. In ihrem Zimmer trägt sie heimlich einen Niqab und betet zu Allah für ihre ungläubige Familie, damit auch die Eltern und ihre jüngere Schwester ins Paradies einziehen. Im Internet sieht sie sich islamistische Propagandavideos an, ein Mitglied des IS hat sie für einen Anschlag rekrutiert. Der Polizeieinsatz kann Schlimmeres verhindern.
An der Schnittstelle zwischen Doku und Fiktion
Mit dieser Actionszene beginnt Marie-Castille Mention-Schaars Film „Der Himmel wird warten“, in dessen Mittelpunkt zwei Mädchen und ihre Familien stehen. Während Sonia nach ihrer Festnahme unter Hausarrest steht, weil die Familie ihr ein sicheres Umfeld bietet, gerät in einer Parallelhandlung auch die gleichaltrige Mélanie in die Fänge radikaler Islamisten: Im Chatroom gibt sich ein Rekrutierer als ihr Verehrer aus, er scheint Mélanie besser zu verstehen als jeder andere. Gleichzeitig bringt er ihr seine Weltsicht nahe, erwartet von ihr immer mehr persönliche Zugeständnisse, stellt Forderungen und Ansprüche. Mélanie lässt sich einwickeln und wird zunehmend abhängig von seiner Anerkennung.
Der Film erzählt so parallel die Geschichte einer Entradikalisierung und einer Radikalisierung mit fein ineinander verwobenen Übergängen – und trotz zweier fiktiver Schicksale extrem nah an der Realität. Die Schnittstelle zwischen Fiktion und Dokumentarfilm ist die Pädagogin Dounia Bouzar. In Frankreich ist sie bekannt, sie hat unter anderem ein Präventionszentrum für Jugendliche gegründet, die in die radikalislamistische Szene abzurutschen drohen. Regisseurin Mention-Schaar hat sie vor den Dreharbeiten drei Monate lang begleitet. In „Der Himmel wird warten“ spielt Bouzar sich selbst.
Der Film ist immer bedacht (stellenweise auch übertrieben pädagogisch), voreilige Schlüsse über junge Menschen, die der Ideologie des radikalen Islam anheimfallen, zu entkräften – beziehungsweise Klischees auszudifferenzieren. „Ihr seid Opfer“, erklärt Bouzar den Mädchen in ihrer Gruppe, die offen über ihre Erfahrungen und ihre Abhängigkeit sprechen.
Wie eine Therapiesitzung – mit ordentlich teenage angst
Opfer sind aber auch die Eltern, deren Kinder vor ihren Augen in den Radikalismus driften. „Wir dürfen nicht denken, das sei alles bloß die Pubertät“, sagt Bouzar zweimal im Film. Sie betreut auch Mütter und Väter in Betroffenensitzungen. Das Unverständnis der Eltern darüber, wie sich Sohn oder Tochter – oft aus sogenannten guten Verhältnissen – einer radikalen Gruppe anschließen konnte, paart sich mit massiven Schuldvorwürfen, dass sie die Veränderungen ihrer Kinder nicht bemerkt haben. So beschreibt „Der Himmel wird warten“ ein breites Spektrum an Erfahrungen, die vielen Gesprächssituationen geben dem Film selbst die Form einer Therapiesitzung – in Verbindung mit einer ordentlichen Portion teenage angst.
Mention-Schaar geht es jedoch weniger darum, die Psychologie der jugendlichen Abgrenzung zu analysieren oder die Identitätsangebote der Islamisten zu erklären. Diese bleiben im Film vage, auch weil das Kino keine letztgültigen Antworten bereithält. „Der Himmel wird warten“ zeigt vielmehr die Beschädigungen und Traumatisierungen bei Jugendlichen und Eltern auf – und die Verführbarkeit in unserer offenen, widersprüchlichen westlichen Gesellschaft. Oft kommt dabei das filmische Mittel der Nahaufnahme zum Einsatz, die Regisseurin sucht immer wieder einen emotionalen Zugang. Umso überzeugender, dass ihr Film trotz dieses aufgeladenen Themas seinen sachlichen Tonfall beibehält.
„Der Himmel wird warten“; Regie: Marie-Castille Mention-Schaar; mit: Noémie Merlant, Naomi Amarger, Sandrine Bonnaire; 105 Min.
Titelbild: Neue Visionen Filmverleih