Was passiert?
„Die Welt sehen“ zeigt ein Bataillon französischer Soldaten, das von einem Afghanistan-Einsatz nach Hause zurückkehren soll. Bevor es in die Heimat geht, werden die vielen jungen Männer und wenigen jungen Frauen für drei Tage in einem Holiday-Resort auf Zypern abgeladen, damit dort mit gezielter Entspannung und psychologisch betreuten Gesprächen ein Erlebnis aufgearbeitet werden kann, das in der Truppe gärt: Bei einem Einsatz waren die Franzosen in einen Hinterhalt geraten. Es gab Tote. Die Soldatin Aurore, die schwer verletzt überlebt hat, spricht beim Kommunikationstraining auf Zypern von ihren Erinnerungen an den Vorfall. Ein anderer Soldat erhebt schwere Vorwürfe gegen den leitenden Offizier, der den Rückzug befohlen hatte, obwohl Kameraden getroffen worden waren. Nun brechen die vorher eher unterschwelligen Aggressionen vollends auf. Als die drei Frauen der Truppe mit einheimischen Männern einen Ausflug über die Insel machen, kommt es zur Eskalation.
Und um was geht es eigentlich?
Dadurch, dass die Soldatin Aurore in den Mittelpunkt des Films gestellt ist, wird der Blick auf das Geschehen gleichzeitig von einer Insider- und einer Outsiderperspektive geprägt. Aurore und ihre Freundin Marine, die sich beide mangels anderer Perspektiven beim Militär verpflichtet haben, gehören zwar zur Truppe, sind aber aufgrund ihres Geschlechts in einer Minderheitenposition, die in der Regel völlig ignoriert wird. Vorgesetzte sprechen die Gruppe meist mit „Messieurs“ an und reden über „die Frauen zu Hause“, als seien gar keine Frauen anwesend. Zwischen den Männern und Frauen der Truppe herrscht ein kameradschaftliches Verhältnis, doch bleiben die Frauen oft auch unter sich. Dass der unbedingte Korpsgeist der Militärs auch intakt bleibt, als es zu schwerwiegenden Übergriffen kommt, ist das eigentlich Verstörende an diesem Film. Die gemeinsam erlebten Kriegstraumata wiegen schwerer als der ultimative persönliche Vertrauensbruch.
Ist „Die Welt sehen“ also ein feministischer Film?
Klar, auch, aber das steht nicht im Vordergrund. Die Regisseurinnen Delphine und Muriel Coulin zeigen die psychischen Deformationen, die Menschen davontragen, die im Kriegseinsatz traumatische Erfahrungen gemacht haben. Sie zeigen auch, wie militärische Disziplin die Truppe dennoch als Einheit weiterhin nach außen zusammenhält. Als Kriegsmaschinen funktionieren Menschen aber nur so lange einigermaßen gut, wie sie Teil eines großen Ganzen sind. Sobald individuelle Sichtweisen zugelassen werden, implodiert das System.
Beste Szene
Als Aurore und Marine gerade in ihrem Hotelzimmer angekommen sind, sieht man sie vor einem fantastisch schönen Hintergrund aus Meer und blauem Himmel sitzen. Sie lehnen an der Scheibe ihres vollverglasten Balkons und wenden der grandiosen Aussicht den Rücken zu. Paradoxerweise ist „Die Welt sehen“ ein unfassbar schöner Film, dessen überlegene Ästhetik nie zum Selbstzweck wird, sondern sich ganz in den Dienst der Sache stellt. Wir sehen Menschen zu, die wie in einem Edward-Hopper-Gemälde von einer Aura existenzieller Einsamkeit umgeben zu sein scheinen. Die Umgebung verstärkt noch den Eindruck der Hoffnungslosigkeit, in der all diese Menschen gefangen sind wie in einer Blase, aus der kein Entkommen ist.
Ideal für …
… alle, die von „Problemfilmen“ die Nase voll haben, in denen vordergründig mit irgendwelchen Zaunpfählen gewedelt wird. Das hat „Die Welt sehen“ nicht nötig. Wer sehen kann und will, wird hier reich belohnt, aber auch mit mehr Fragen nach Hause geschickt, als es Antworten gibt. Großartig geschrieben, großartig gefilmt, großartig gespielt. Nichts zu beanstanden. Wegtreten!
„Die Welt sehen“, Frankreich 2016; Buch und Regie: Muriel und Delphine Coulin, mit Soko, Ariane Labed, Ginger Romàn, Karim Leklou, Andreas Konstantinou; 102 Minuten