Seinen Film musste er im Hausarrest fertigstellen, denn noch vor Abschluss der Dreharbeiten zu „Leto“ wurde Kirill Serebrennikow im August letzten Jahres verhaftet. Dem international renommierten Regisseur und Theaterleiter wird Veruntreuung staatlicher Gelder vorgeworfen, was er vehement bestreitet. Aus Sicht der kritischen russischen Kulturelite sowie in der westlichen Wahrnehmung scheint der Fall eindeutig politisch motiviert zu sein. Serebrennikow hat sich in der Vergangenheit mit Äußerungen zum Ukrainekonflikt unbeliebt gemacht und ist angeeckt mit dem Vorhaben, das Leben Tschaikowskis zu verfilmen. Es scheiterte an der Finanzierung, weil niemand sich traute, Geld in ein Projekt zu stecken, über das sich der Kulturminister öffentlich aufregte, weil auch die „angebliche Homosexualität“ des Großkomponisten gezeigt werden sollte.
Seit über einem Jahr nun darf Serebrennikow nur mit behördlicher Genehmigung seine Moskauer Wohnung verlassen. Auch die Premiere von „Leto“ – im Mai auf dem Filmfestival von Cannes – fand ohne ihn statt. Emsig fotografierte die internationale Presse den leeren Platz mit seinem Namensschild.
Ein ziemlich unschwuler Held
An „Leto“ allerdings ist nichts politisch verdächtig. Die Hauptfigur Viktor Zoi war ja nicht einmal schwul, sondern als Sänger und Songwriter der Gruppe Kino der wohl größte sowjetische Rockstar. Sein Unfalltod im Jahr 1990 – er wurde nur 28 Jahre alt – machte ihn endgültig zum Mythos.
Wie Kino zu der sowjetischen Supergroup wurde, erfährt man in „Leto“ (zu Deutsch: Sommer) allerdings nicht. Der Film zeigt nur einen kleinen Zeitausschnitt aus der Frühphase der Band. Es sind die frühen 1980er-Jahre, Endstadium der grauen Vor-Perestroika-Zeit, oft auch „Zeit der Stagnation“ genannt.
In der Szene brodelt es
Dieses Label stimmt damals nur noch bedingt. Nach außen mag die sowjetische Gesellschaft in phlegmatischem Schweigen erstarrt sein, im Untergrund aber brodelt es. Leningrad (wie St. Petersburg von 1924 bis 1991 hieß) ist das Zentrum der Szene. Musiker treten bei privaten Wohnzimmerkonzerten auf, manchmal schaffen es Bands in einen offiziellen Kulturclub. Der junge Viktor Zoi und seine Freunde suchen die Gesellschaft von Mike Naumenko, der Songs im Stil von Velvet Underground, Blondie oder T. Rex spielt. Man freundet sich an, Mike verhilft den jüngeren Musikern zu Auftritten und irgendwann sogar zum ersten Album. Natalja, Mikes Frau, mit der er auch ein kleines Kind hat, verliebt sich in Viktor, bleibt aber bei ihrem Mann. Doch bei aller Freundschaft und Großzügigkeit kann dieses fragile Beziehungsdreieck nicht für die Ewigkeit sein.
Serebrennikow hat seinen Film in Schwarz-Weiß gedreht, weil, wie er vor Drehbeginn schrieb (seit seiner Verhaftung darf er nichts mehr veröffentlichen), „das der einzige Weg [ist], die Geschichte dieser Generation zu erzählen. Die Vorstellung von Farbe tauchte erst später im kollektiven Bewusstsein Russlands auf.“ Das klingt einerseits nachvollziehbar, kann aber angesichts der kunstvoll stilisierten Schwarz-Weiß-Optik dieses Films höchstens die halbe Wahrheit sein. Um ein authentisches Bild der 1980er-Jahre zu liefern, ist Serebrennikow nämlich viel zu sehr Ästhet. Meilenweit entfernt vom sowjetischen Einheitsgrau, leuchten die Bilder in geheimnisvollen Hell-Dunkel-Kontrasten, die an den expressiven Erzählgestus der französischen Nouvelle Vague erinnern, an Jean-Luc Godard oder den jungen François Truffaut. Auch das Erzählmuster passt in diese Assoziation; eine Dreiecksbeziehung wie diese hat man zuletzt in Truffauts „Jules et Jim“ von 1962 so zart gefilmt gesehen.
Von der Umgebung sieht man allerdings ziemlich wenig. In einer Szene wird der Drummer von Viktors Band zum Militär eingezogen („Bloß nicht nach Afghanistan!“, hört man ihn schreien). Eine andere Szene zeigt die bürokratischen Hürden, die überwunden werden müssen, damit die Bands in einem Kulturclub auftreten dürfen. Bei den Konzerten dort sitzen alle sehr ordentlich im festen Gestühl. Das war’s aber auch schon mit dem Wirklichkeitsbezug, Alltag ist anderswo.
Der Prozess gegen Serebrennikow hat begonnen
Was Serebrennikow zeigt, spielt nicht wirklich in dieser Welt – oder im realen Leningrad der 1980er-Jahre. Er zitiert es nur. Dies hier ist ein poetisches Destillat, eine Parallelwelt, die sich zum Teil aus den romantischen Erinnerungen der Natalja Naumenko an ein vergangenes Lebensgefühl speist. Zum größten Teil aber aus der kreativen Energie des Regisseurs Serebrennikow. Die geht eben eigene Wege. Und hoffentlich bald wieder außerhalb seiner Wohnung. Gerade hat der Prozess begonnen.
Fotos: Weltkino