Familie, das sind die Menschen, die man sein Leben lang nicht richtig loswird. Die US-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin Jeannette Walls gehört zu denjenigen, die mit unzurechnungsfähigen Eltern aufgewachsen sind. Über ihre extreme Kindheit schrieb sie das Buch „The Glass Castle“, das insgesamt 261 Wochen auf der New York Times-Bestsellerliste stand und auch in seiner deutschen Übersetzung eine halbe Million Mal verkauft wurde. Dann wurde der erfolgreiche Roman von Hollywood entdeckt und ist nun unter der Regie von Destin Daniel Cretton verfilmt worden. Woody Harrelson, Brie Larson und Naomi Watts spielen die Hauptrollen in dem berührenden Drama.
Schon die Eingangsszene hat es in sich: Die kleine Jeannette ist hungrig, aber ihre Mutter, gerade damit beschäftigt, ein Blumenbild zu malen, weist das Kind an, selbst Essen zu kochen. Beim Versuch, Würstchen zu erwärmen, fängt der Rock des kleinen Mädchens am Gasherd Feuer. Sie erleidet schwere Verbrennungen, landet im Krankenhaus, aus dem sie aber nach einer Weile von ihrem draufgängerischen Vater entführt wird, weil die Familie sich die Klinikkosten nicht leisten kann.
Diese Episode enthält bereits alles, wovon auch Jeannettes restliche Kindheit geprägt sein wird: den Egoismus der Eltern, die gedankenlose Vernachlässigung, der Jeannette und ihre Geschwister ausgesetzt sind, aber auch die leinwandsprengend anarchische Energie, mit der vor allem der Vater (großartig: Woody Harrelson) sich durchs Leben pflügt und damit die Geschicke der gesamten Familie bestimmt. Ständig müssen sie umziehen; meist ist nicht klar, warum. Rex Walls verliert seine Jobs, jemand ist angeblich hinter ihm her, irgendwas ist immer. Aber all das, so vermittelt er seinen Kindern mit offenbar nie nachlassendem Enthusiasmus, ist ein einziges großes Abenteuer, und das Leben ist das, was man daraus macht. Wenn kein Geld für Geburtstagsgeschenke da ist, schenkt er seinen Kindern eben einen Stern am Himmel. In solchen Szenen zeigt sich Rex als toller Vater, der den Kindern Mut und Selbstvertrauen vermittelt. Doch ebenso oft lässt er sie im Stich und versäuft auch noch den letzten Cent. Die vier Geschwister haben schlicht keine Eltern, die auf sie aufpassen oder dafür sorgen, dass genug zu essen im Haus ist.
Jeannette Walls mag mit ihrer Kindheitsgeschichte sehr viel Geld verdient haben. Aber mit ihr tauschen wollen möchte man ganz sicher nicht.
Wie das Buch fokussiert sich der Film auf die enge Beziehung zwischen Jeannette und ihrem Vater, die Mutter bleibt eher eine Nebenfigur. Die Kindheitsepisoden werden in der Rückschau erzählt. Die Rahmenhandlung zeigt die erwachsene Jeannette in New York. Sie hat als Klatschkolumnistin Karriere gemacht, ist stets in perfekt sitzenden Businessklamotten gekleidet und verlobt mit einem Finanzanalysten. Doch da die Eltern den Kindern, die alle so früh wie möglich von zu Hause geflüchtet sind, nach New York gefolgt sind, wird Jeannette ihre Vergangenheit nicht los.
Der Kontrast zwischen der einen und der anderen Welt ist so stark, dass man ihn für eine erzählerische Übertreibung halten könnte, wenn man nicht wüsste, dass dieser filmisch so attraktiven Story eine wahre Lebensgeschichte zugrunde liegt. Es gelingt Destin Daniel Cretton hervorragend, die Zuschauer immer wieder zu den Kindern zu machen, die Jeannette und die anderen einst waren – zu Kindern, die zwar oft verzweifeln müssen, weil die äußeren Lebensbedingungen allzu elend sind, die sich aber immer wieder mit großer Begeisterung verführen lassen zu glauben, dass alles noch gut wird. Und die ihre Eltern trotz allem lieben – andere haben sie ja auch nicht.
Wenn diese Tour de Force der widerstreitenden Gefühle irgendwann vorbei ist und man wieder in der eigenen Wirklichkeit ankommt, stellt sich ein merkwürdiges Gefühl der Erleichterung ein. Jeannette Walls mag mit ihrer Kindheitsgeschichte sehr viel Geld verdient haben. Aber mit ihr tauschen wollen möchte man ganz sicher nicht.
Titelbild: STUDIOCANAL