Finnland? Ist das nicht dieses etwas kuriose Land mit vielen Seen und noch mehr Wald ganz im Norden? Finnland, so scheint es manchmal, liegt nicht nur am Rand Europas. Es liegt auch etwas abseits der öffentlichen Wahrnehmung, zumindest in Deutschland. Denn es ist dort weder hyggelig wie in Dänemark, es hat kein Ikea wie die Schweden und ist auch nicht so reich wie Norwegen.
Gut, von den finnischen Mumins haben die meisten schon gehört, natürlich auch von der finnischen Sauna (wobei die Finnen entgegen allen Erzählungen die Sauna nicht erfunden haben), ebenso von den guten Pisa-Ergebnissen des Landes und von der Band Lordi. Auch von Experimenten mit dem Grundeinkommen wird immer mal wieder berichtet. Aktuell kommt nun noch ein weiterer guter Grund hinzu, einen genaueren Blick auf Finnland zu werfen: Das Land feiert heute seine 100-jährige Unabhängigkeit von Russland. Und das Verhältnis Finnlands zu Russland, das nie unproblematisch war, ist in letzter Zeit wieder angespannt.
Je offener sich Finnland der Nato annähert, desto drastischer werden die Warnungen aus Russland
Das hat auch mit der Vorgeschichte zu tun: Die Gebiete des heutigen Finnlands standen vom 13. Jahrhundert bis 1809 größtenteils unter schwedischer und anschließend 108 Jahre lang unter russischer Herrschaft. Als Teil des Russischen Reiches war es dabei weitgehend autonom. 1917 wurde dann der russische Zar bei der Februarrevolution gestürzt, und die kommunistischen Bolschewiki haben bei der Oktoberrevolution die Macht in Russland übernommen. Auch in Finnland, das sich seit Beginn des Ersten Weltkriegs in einer Krise befand, ordneten sich damit die Machtverhältnisse neu: Das finnische Parlament erklärte am 6. Dezember 1917 die Unabhängigkeit. Stabil war das Land damit noch lange nicht. Wenige Wochen später begann ein Bürgerkrieg zwischen den „Roten“ aus der Arbeiterschaft und den bürgerlichen „Weißen“, den letztere nach gut drei Monaten für sich entschieden. Heute bejubeln die Finnen ihre Freiheit und Identität als etwas sehr Wertvolles, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven.
Seit der Annexion der Krim durch Russland hat sich die Angst vor einem ähnlichen Schicksal in Finnland breitgemacht
An einer 1.300 Kilometer langen Grenze schmiegen sich Russland und Finnland aneinander. Aber nach Kuscheln ist ihnen nicht immer zumute: In Helsinki wird derzeit ein Tunnelsystem, das im Kalten Krieg für den Verteidigungsfall errichtet worden war, aufgerüstet und ausgebaut. Derweil wird in Moskau der Ton schärfer: Wehe, Finnland tritt der Nato bei. Das würde die wichtigen Handelsbeziehungen erschweren und womöglich westliches Militär zu nahe an die russische Grenze lassen.
Seit der Annexion der Krim durch Russland hat sich die Angst vor einem ähnlichen Schicksal in Finnland breitgemacht. 2016 schlossen die Finnen daher einen Vertrag zur militärischen Zusammenarbeit mit den USA im Falle eines Angriffs von russischer Seite. Je offener die Annäherung Finnlands an den Westen und an die Nato wird, desto drastischer werden die Warnungen aus Russland, man werde dem nicht tatenlos zusehen.
Dabei schien die komplexe Beziehung zu Russland lange Zeit recht stabil zu sein, vor allem wirtschaftlich sind Finnland und Russland seit Jahrzehnten eng miteinander verbunden. Daran änderte sich auch nichts, als Finnland 1995 der EU beitrat. Nun aber wurden in Finnland zusätzlich zu den bisherigen Streitkräften 50.000 Menschen in militärischen Bereitschaftsstatus versetzt. Russland präsentierte seine Macht im September beim Militärmanöver Sapad nahe der Grenze.
Ist Finnland Europas „Bärenflüsterer“?
In Finnland setzt man auf die sisu, die Ausdauer und leidenschaftliche Zähigkeit, die man sich selbst und der nationalen Mentalität zugutehält. Man ist erprobt im Umgang mit dem mächtigen Nachbarn. Das Verhältnis basierte auf den diplomatischen Erfahrungen, die man im gemeinsamen Bemühen, den Frieden zu wahren, gemacht hatte. Russland hat nach Einschätzungen politischer Beobachter kein Interesse daran, dass sich Finnlands Sonderstatus zwischen Ost und West verändert. Das wäre bei einem Nato-Beitritt Finnlands jedoch der Fall.
Die Unabhängigkeit von Russland ist für die meisten Finnen zum Teil ihrer Identität geworden. Einen Nato-Beitritt befürwortet aktuell aber nur 22 Prozent.
Die beiden Länder trennt kulturell mehr, als sie verbindet. Die Finnen haben sich in der Nachkriegszeit und vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zunehmend nach Europa orientiert. Auch ihr ausgeprägter Stolz auf ihre Sprache hat schon vor 100 Jahren dazu beigetragen, dass die Finnen ihre Unabhängigkeit einforderten. Grundlegend für das damals erwachte nationale Selbstbewusstsein war unter anderem das Volksepos „Kalevala“, eine Mythologie mit vielen tragischen Heldensagen. Dadurch, dass die „Kalevala“ 1835 gedruckt und weit verbreitet wurde, bekam die finnische Schrift und Sprache eine erste große literarische Wiege – und die Finnen das Gefühl, zu den europäischen Kulturnationen zu gehören.
Und was zählt heute?
In Finnland geht es um Fortschritt: So experimentiert das Land mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, und immer mehr finnische Tech-Start-ups gewinnen an Bedeutung. Internationale Beachtung findet auch das erfolgreiche Bildungssystem, auch wenn zusehends kritisiert wird. Die Tatsache, dass sich russische Trollfabriken gerade an Finnland die Zähne ausbeißen, interessiert die europäischen Nachbarn. Aufgrund ihres hohen Bildungsstandards und der technischen Aufgeklärtheit gelten die Finnen als vergleichsweise immun gegenüber russischer Propaganda und Fake News. Wie sehr sich das bewährt, bleibt abzuwarten.
Es geht auch gefühlig und kreativ zu. Ein bisschen Luft bei all dem gefühlten Druck aus dem Osten machen sich die Finnen durch Musik: Hinterhof-Jazz und nostalgische Populärmusik sind in Helsinki gerade das große Ding und kommen mittlerweile auch andernorts gut an. In der Musik ist nicht unbedingt Perfektion gefragt, sondern vielmehr echte Haltung, Freude und Mut zu bunten Klang-Experimenten.
Auch finnisches Design und Architektur tragen zur Selbstbehauptung der eigenständigen Identität bei. Leider ist jedoch auch der Alkohol ein beliebtes Ventil für ländliche Einsamkeit und Wärmebedarf in der dunklen Jahreszeit. Die Vorliebe für Klares wiederum teilt man mit dem russischen Nachbarn.
Mit sisu oder „Fixit“ in die Zukunft?
Lange schien Finnland anderen europäischen Staaten vorzumachen, wie man geduldig mit dem muskelspielenden Russland umgehen kann. Doch wie sich das politische Verhältnis der beiden Länder entwickeln wird, ist ungewiss. Am 28. Januar 2018 sollen die Präsidentschaftswahlen in Finnland stattfinden. Im Juni erst trat „Fixit“-Befürworter Jussi Halla-aho an die Spitze der populistischen Partei Perussuomalaiset (Die Finnen) und führt diese immer weiter nach rechts. Doch Präsident Sauli Niinistö tritt zur Wiederwahl an und gilt als sehr bemüht, die Lage zu beruhigen. Und viele Finnen hoffen, dass sich ihre sisu-Mentalität auch in der Diplomatie bewähren wird.
Ein bisschen mehr Finnland:
Film: „Die andere Seite der Hoffnung“ Geschichte eines syrischen Flüchtlings in Helsinki.
Oder: „Tom of Finland“ über den gleichnamigen Künstler und Illustrator, dessen explizite schwule Bilder auch Briefmarken zieren.
Buch: „Jung entschlafen“ Frans Eemil Sillanpää, erschienen im Guggolz-Verlag.
Musik: Mehr bei dem Label We Jazz und den Links im Text.
Fotos: Jussi Puikkonen