fluter.de: Seit einigen Wochen erreichen uns aus Griechenland und anderen Balkanstaaten Berichte von Flüchtlingen, die bei Minusgraden im Freien schlafen müssen, von Menschen, die an Erfrierungen leiden, und Zelten, die unter der Schneelast zusammenbrechen. Wie ist die momentane Situation in Serbien?
Andrea Contenta: Die Situation verändert sich kontinuierlich. Vor ein paar Tagen hat die Regierung eine neue Unterkunft geöffnet, in die 230 Menschen eingezogen sind. Damit ist dieses Zentrum aber auch schon wieder voll. Es gibt also noch wirklich viel zu tun.
Wie viele Flüchtlinge halten sich denn derzeit in Serbien auf?
Laut UNHCR sind momentan offiziell 7.300 Asylbewerber und Migranten in Serbien. Schätzungen zufolge sind es aber über 8.500.
Und wie viele winterfeste Unterkünfte gibt es?
Um ehrlich zu sein: Ich habe diese Frage den serbischen Behörden, dem UNHCR und anderen Organisationen selbst schon mehrere Male gestellt. Aber es scheint sehr schwierig, eine Zahl zu nennen. Was wir wissen, ist, dass es 3.600 Plätze gibt, die für den Winter adäquat sind und längerfristig benutzt werden können. Wir sprechen hier von „longterm capacities“, damit sind Wohnräume in Betongebäuden gemeint. Und dann gibt es noch „shelters“, provisorische Notunterkünfte, die zumindest theoretisch geheizt werden können.
Und wie viele finden nicht einmal dort Platz? Wo essen, leben, schlafen die, wenn nicht in offiziellen Unterkünften?
Wir glauben, dass es etwa 1.200 Menschen sind. Die meisten leben in Belgrad, etwa in verfallenen Lagerhallen in der Nähe des Hauptbahnhofes.
Im Jahr 2015 nahmen Hunderttausende Flüchtlinge die sogenannte Balkanroute, um nach Mitteleuropa zu kommen: Über die Türkei und Griechenland gelangten sie nach Mazedonien und Serbien und schließlich über Ungarn oder Kroatien und Slowenien nach Österreich, Deutschland und in andere EU-Länder.
Gibt es dort Betten, Sanitäranlagen, Möglichkeiten, sich aufzuwärmen?
Nein, es gibt überhaupt nichts. Die Flüchtlinge leben dort seit Monaten ohne irgendwelche Mittel. Sie schlafen im Freien und unter menschenunwürdigen Bedingungen. Niemand sollte bei solchen Temperaturen draußen schlafen, vor allem nicht für eine so lange Zeit.
Arbeiten die serbischen Behörden mit den Hilfsorganisationen vor Ort zusammen?
Im Spätherbst versuchten die Behörden, jegliche Hilfsaktionen außerhalb der offiziellen Camps zu verhindern. Seit ein paar Tagen ändern sich die Dinge aber wieder. Manche der Hilfsleistungen von freiwilligen Kräften, dabei geht es meist um kurzfristige Hilfe wie Essensausgabe, werden wieder toleriert. Eine Gruppe zum Beispiel stellt jedem Flüchtling eine Mahlzeit pro Tag zur Verfügung – zeitweise war selbst das verboten. Wir müssen aber abwarten, welchen Effekt die Lockerungen längerfristig haben werden.
Wie sieht die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen in Serbien momentan aus?
Wir haben eine mobile Klinik, in der Ärzte und Psychologen arbeiten. Diese bieten speziell jenen Menschen medizinische und psychologische Hilfe an, die keinen Zugang zu den Flüchtlingscamps haben. Was das Einsatzgebiet betrifft, haben wir uns in den letzten drei Monaten auf Belgrad konzentriert, weil hier die meisten Menschen sind.
Von der Anzahl an Durchreisenden überfordert, versuchten die Transitländer, die Flüchtlingsbewegungen durch Grenzkontrollen und den Bau von Zäunen zu stoppen. Nach einem EU-Türkei-Gipfel im März 2016 beschlossen sie schließlich, die Grenzen für Flüchtlinge ohne Visum komplett zu schließen und Menschen, die es über das Meer nach Griechenland geschafft haben, wieder in die Türkei zurückzuschicken – eine Entscheidung, die stark umstritten war.
Mit welchen Problemen kommen die Flüchtlinge zu Ihnen?
Durch die Kälte bedingt leiden sehr viele an Atemwegserkrankungen, ein paar an Erfrierungen. Ein Arzt in der mobilen Klinik musste unter anderem ein zweijähriges Mädchen mit schweren Frostbeulen behandeln – einer Krankheit, die viel gefährlicher ist, als sie klingt: Das Blut kann nicht mehr in die Extremitäten fließen, im schlimmsten Fall müssen diese dann amputiert werden müssen. Und wegen der unsicheren und unhygienischen Bedingungen, denen viele Flüchtlinge schon lange ausgesetzt sind, treten auch Hautkrankheiten und Pilzinfektionen sehr häufig auf.
Das klingt furchtbar und vermeidbar.
Ja, man muss sich einfach mal vorstellen, seit Monaten kein fließendes Wasser, keine Toiletten und keine Dusche zu haben. Komplett zurückgelassen worden zu sein, mitten in einer Stadt, ja am Hauptbahnhof einer Hauptstadt, wo der Rest der Gesellschaft täglich vorübergeht.
Wie alt sind die Menschen, die dort leben, und woher kommen sie?
Ich würde schätzen, dass die Hälfte unserer Patienten unter achtzehn ist. Aber das sind keine geprüften Zahlen. Das UNHCR, das Zahlen über jene hat, die in den Camps leben, spricht von einem Anteil Minderjähriger von 46 Prozent. Die meisten der Menschen kommen aus Afghanistan, dem Irak und Pakistan. Es sind aber auch viele Kurden unter ihnen, syrische sowie irakische.
Viele Flüchtlinge sitzen seitdem in den Transitländern fest und warten darauf, weiterreisen zu dürfen. Auch wenn die Balkanroute seit nunmehr fast einem Jahr als geschlossen gilt, ist sie noch immer eine wichtige Einreiseroute nach Zentraleuropa.
Es wird berichtet, manche Flüchtlinge würden sich nicht registrieren lassen – aus Angst, nach Bulgarien oder Mazedonien abgeschoben zu werden. Stimmt das?
Ja, das ist wahr. Es herrscht sehr große Angst, was das angeht. Auch weil es in der Vergangenheit tatsächlich Fälle gab, in denen Menschen auf eine sehr intransparente oder gar illegale Weise abgeschoben wurden.
Was würde in der jetzigen Situation helfen?
In erster Linie braucht es ganz einfach einen Ort, an dem die Menschen den Winter überleben können. Was zudem fehlt, ist ein klarer Plan. Einer, der die verschiedenen Situationen und Kapazitäten im gesamten Balkan berücksichtigt.
Wer sollte Ihrer Meinung nach diesen Plan gestalten?
Die Situation ist nicht einzig ein Problem Serbiens oder des Balkans. Es ist auch nicht einzig ein Problem der Europäischen Union. Verschiedene Akteure sollten an einem Tisch zusammenkommen. Auf keinen Fall werden wir das Problem lösen, indem wir weiter so tun, als wäre die Balkanroute tatsächlich geschlossen und als gäbe es die Menschen hier nicht.
Andrea Contenta arbeitet seit August 2016 für Ärzte ohne Grenzen in Serbien. Dort ist er Beauftragter für humanitäre Angelegenheiten. Er ist 37 Jahre alt und kommt aus Italien.
Wir haben das Interview am Telefon geführt und aus dem Englischen übersetzt.
Titelbild: dpa/picture-alliance