Irgendwann platzte José Bové der Kragen. Zusammen mit anderen Bauern stürmte der Schafzüchter 1999 eine im Bau befindliche McDonald’s- Filiale und haute alles, was er dort fand, kurz und klein. Personen wurden nicht verletzt, der Sachschaden aber betrug über 100.000 Euro. Wenn es um die Verteidigung ihrer kulinarischen Werte geht, können die Franzosen rabiat werden.
Man kann darüber streiten, ob der Adressat von Bovés Wutanfall besonders glücklich gewählt war. Der Bauer wollte gegen die Strafzölle protestieren, die die USA auf französische Produkte wie den Roquefort-Käse erhoben, nachdem sich die EU zuvor geweigert hatte, gentechnisch veränderte Nahrungsmittel aus den USA zu importieren. Die französischen McDonald’s-Filialen beziehen ihre Ware aber vor allem – von französischen Bauern.
Eindruck hinterließ die militante Aktion aber allemal. Der unbeugsame Gallier Bové, der bestimmt nicht zufällig seinen Bart wie Asterix trägt, wurde in Frankreich zum Volkshelden, nahm er doch in den Augen vieler Franzosen den Kampf gegen Genfood, Globalisierung und die Ernährungsmultis auf. Zu seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2000 sollen viele Tausende Menschen gekommen sein. Heute sitzt Bové als Abgeordneter im Europäischen Parlament.
Das Restaurant und die klassische Menüfolge sind französische Erfindungen
Die Franzosen und das Essen. Das ist die lange Geschichte einer großen Leidenschaft. Und immer wieder eine Frage von nationaler Wichtigkeit. Ja, mehr noch. Im Genuss verbindet sich die bewegte politische Geschichte des Landes mit dem privaten Leben so innig wie Essig und Öl in einer Vinaigrette.
Natürlich: So ziemlich alle Länder der Welt beziehen aus ihrer Küchentradition ein Stück nationaler Identität. Nur bei den Franzosen ist es eben ein besonders großes Stück. Nicht ohne Grund sehen sie ihr Land als die Wiege der Kochkunst: Das Restaurant ist eine französische Erfindung, ebenso die klassische Menüfolge, die Arbeitsteilung einer Küchenbrigade, der Restaurantführer, praktisch alle Fachbegriffe der Gastronomie und so viele Rezepte und Küchentechniken, dass man sie hier gar nicht aufzählen kann. Und diese Geschichte beginnt in der Frühen Neuzeit.
Mit dem Aufkommen des Absolutismus im 17. Jahrhundert war Frankreich kulturell führend in Europa. Das zeigte sich nicht nur im Aufstieg des Französischen als Sprache der Diplomatie. Es zeigte sich auch darin, dass in Frankreich die findigsten Köche des Kontinents arbeiteten und mit ihren raffinierten kulinarischen Ideen den Hofstaat bei Laune hielten.
Bis ins 18. Jahrhundert waren die Freuden der gehobenen Küche nur dem Adel vorbehalten. Und der kämpfte darum, wer den König der Köche bei sich im Château beschäftigte. Auf die große Revolution, die die Macht des Adels brechen sollte, folgte dann auch eine kulinarische. Als große Teile der Aristokratie nach den politischen Umbrüchen von 1789 fliehen mussten, wurden ihre Köche nicht selten zu Unternehmern. Sie gründeten Restaurants, eröffneten Cafés, Patisserien und Delikatessengeschäfte. Deren Kundschaft waren nicht zuletzt die Abgeordneten der revolutionären Versammlungen, die jetzt zahlreich nach Paris kamen. Nicht nur die Gastronomie erblühte, sondern auch die Gastrokritik. Zahlreiche Bücher beschäftigten sich mit allen erdenklichen Fragen rund um das gute Essen. Wenn heute die Sterne des „Guide Michelin“ als globales Eichmaß für kulinarische Exzellenz gelten, dann hat diese Entwicklung hier ihren Ursprung.
Dann sollen sie doch Kuchen essen? So hat Marie Antoinette das nie gesagt
Die Französische Revolution sorgte also auch für eine Demokratisierung des Geschmacks. Ludwig XVI. hingegen kostete sie den Kopf. Auf dem Weg zum Schafott trank der König übrigens noch ein Glas Champagner. Falsch hingegen ist, dass seine Gattin Marie Antoinette der nach Brot hungernden Bevölkerung empfahl, sie solle halt Kuchen essen. Es ist sogar doppelt falsch. Einerseits ist in dem Originalzitat von Brioche die Rede, ein dem Brot nicht unähnliches Hefeteiggebäck. Und außerdem sagte Marie Antoinette das nie. Weil der Hochmut und die Dekadenz aber so schön in den vorrevolutionären Furor passten, wurde der verhassten Königin das Zitat zugeschrieben.
Dass Essen nicht nur als Symbol für die Abgehobenheit der Aristokratie, sondern auch als Mittel der Diplomatie in Frankreich Karriere machen kann, bewies Charles Maurice de Talleyrand- Périgord einige Jahre später. Da hatte sich der Wind politisch schon wieder gedreht. Napoleon und seine Truppen unterlagen in den Koalitionskriegen. Der Kontinent lag in Trümmern.
Auf dem Wiener Kongress sollte ab September 1814 die Neuordnung Europas beschlossen werden. Frankreich fürchtete seine territoriale Zerschlagung. Dafür traten etwa Preußen und Österreich ein. Das zaristische Russland hingegen wollte mit einem starken Frankreich die aufstrebenden mitteleuropäischen Mächte in Schach halten.
Was machte Talleyrand? Er brachte den damaligen Pariser Starkoch Marie-Antoine Carême mit nach Wien und – wohl wissend um den ausgeprägten Champagnerdurst des russischen Zaren Alexander I. – auch gleich die passende Getränkebegleitung für die vielen, vielen Feste, die während des Wiener Kongresses abgehalten wurden. Allein auf dem kaiserlichen Hofball, bei dem praktisch der gesamte europäische Hochadel tanzte, ließ die französische Delegation 1.500 Magnumflaschen Moët springen.
Frankreich blieb die Zerschlagung schließlich erspart. Und ein exzellentes Marketing war die Maßnahme obendrein: Champagner galt fortan endgültig als der Inbegriff des Luxus und der Eleganz. Bis zur Oktoberrevolution 1917 zählte der russische Hof zu den besten Kunden. Auch heute noch ist Champagner ein wichtiger Aktivposten in der nationalen Handelsbilanz. Zusammen mit Wein und Spirituosen beläuft sich der Umsatz auf über zwölf Milliarden Euro pro Jahr.
Heute streiten die Franzosen über das Schulessen: Soll der Speiseplan auf religiöse Vorschriften Rücksicht nehmen?
Bis heute zeigen sich die politischen Verhältnisse immer wieder in Fragen des Essens. Etwa wenn es um die Einheit der Nation geht. Unter Charles de Gaulle erlebte Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg bewegte Zeiten. Algerienkrieg, Verfassungskrise, der schwierige Weg zur europäischen Einigung. Zu diskutieren gab es viel. Und Einigkeit herrschte unter den Franzosen nur selten. Was sagte der Général dazu: „Wie soll man ein Volk regieren, das über 246 Käsesorten kennt?“
Zu den großen Themen der letzten Jahre zählt das angespannte Verhältnis zwischen der französischen Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Minderheit. Das zeigt sich auch an dem immer wieder aufkochenden Streit um das Schulessen. Seit 30 Jahren servieren die Schulkantinen Ersatzgerichte, wenn Schweinefleisch auf dem Speiseplan steht, damit jüdische und muslimische Kinder mit ihren Mitschülern die Mittagspause verbringen können. Das schmeckte ein paar Bürgermeistern plötzlich nicht mehr. Sie hielten es für nicht vereinbar mit dem in der französischen Verfassung verankerten Prinzip des Laizismus, das die strikte Trennung von Kirche und Staat garantiert. Wenn Kippa und Kopftuch in der Schule als religiöse Symbole verboten seien, so ihr Argument, dann dürfe der Speiseplan auch nicht nach religiösen Vorschriften gestaltet sein. Das löste einen landesweiten Streit aus, der bis heute nicht geklärt ist.
Die große Küchentradition verstehen die Franzosen aber auch als Wachstumsmotor. Das hat sich jedenfalls das französische Außenministerium überlegt. Sie soll den Tourismus ankurbeln und der seit der Bankenkrise 2008 schwächelnden Wirtschaft einen Schub verpassen. Um mit dem kulturellen Kapital der Küche das Außenhandelsdefizit zu verkleinern, lud der damalige Außenminister Laurent Fabius 2015 die Spitzenköche des Landes zu einer Veranstaltung in seinen Amtssitz am Seineufer ein – sie seien ja Botschafter des Landes. „Gastrodiplomatie“ nannte Fabius seine PR-Maßnahme. Seither wird einmal pro Jahr auf der ganzen Welt die französische Küche mit der kulinarischen Offensive „Goût de France/Good France“ gefeiert. Tatsächlich steht „das französische Gastmahl“ seit 2010 auf der Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO. Es teilt diesen Status etwa mit dem Tango aus Argentinien und Uruguay oder einer traditionellen mongolischen Musik. Ganz nach dem Geschmack der Franzosen dürfte sein, dass ihre die erste Landesküche ist, der diese Ehre zuteilwurde.
Illustration: Carolin Löbbert