Als Popradio-Hörer kann es einem derzeit passieren, dass man sich angesichts des rauen Umgangstons an seinem Marmeladenbrötchen verschluckt. „Du verdammte Hure / Das ist dein Lied / Dein Lied ganz allein / Das kannst du all deinen Freunden zeigen“, texten die Chemnitzer von Kraftklub. „Und jeder Jäger träumt von einem Reh / Jeder Winter träumt vom Schnee / Jede Theke träumt von einem Bier / Warum, du Nutte, träumst du nicht von mir?“, singt dagegen der junge Schweizer Liedermacher namens Faber. Und im Song „Bitch“ der Berliner Band Von Wegen Lisbeth heißt es: „Bitch, ich bin für dich den ganzen Weg gerannt, den ganzen Weg alleine“.
Was alle drei Stücke gemeinsam haben: Dort sprechen verlassene Männer, die der jeweiligen Frau wütend Schimpfworte hinterherrufen.
Nun ist das Beschimpfen der Frau in der Musik wirklich nichts Neues
Nun ist das Beschimpfen der Frau in der Musik wirklich nichts Neues, sondern gehört im Hip-Hop – von Eminem über Jay-Z bis Bushido und Rihanna – fest zum Repertoire. Neu ist, dass es Indie-Musiker sind, die sich so äußern. Indie, das war doch eigentlich die Musik der empfindsamen Seelen, die sich eher wundern, statt zu wüten. Die braven Abiturienten, die einer Frau still hinterherweinen, statt sie zu verfluchen.
Es gibt, grob gesagt, zwei Reaktionen darauf. Die eine, man könnte sagen: feministische Lesart, sieht in den Schmähungen einen Fall von Slutshaming. Das bedeutet, dass Frauen für ihre Kleidung oder ihre Verhaltensweisen angegriffen werden und ihnen hierfür Schamgefühle eingeredet werden. Wenn eine Frau sich herausnimmt, selbst über ihren Körper und ihr Leben zu bestimmen, wie das die in den Liedern besungenen Verflossenen offenbar getan haben, gilt sie als Schlampe – als unehrenhaft und hintertrieben. Die Songs sind also Abbild einer Welt, in der Männer Freiheiten genießen, die sie Frauen nicht zugestehen. So viel zur Gleichberechtigung der Geschlechter.
Diese Interpretation hat den Nachteil, dass sie nicht erklären hilft, warum es gerade jetzt diese Häufung der Hure-Nutte-Bitch-Songs gibt. Und, so lautet eine Kritik an dieser Lesart: Sie nimmt die Texte für bare Münze, wo doch ein künstlerisches Subjekt am Werk ist.
Selbst wenn solche Verbalattacken von der künstlerischen Freiheit gedeckt wären, normalisieren sie eine abwertende Sprache
Man darf in der Tat Interpret und lyrisches Ich nicht verwechseln, das ist in der Literatur nicht anders als in der Popmusik. Man kann – und das ist die zweite Interpretation – den ebenfalls aus der Literaturwissenschaft stammenden Begriff der Rollenprosa ins Feld führen. Der meint, dass ein Autor die Rolle einer fiktiven Figur einnimmt. Aber selbst wenn solche Verbalattacken von der künstlerischen Freiheit gedeckt wären, normalisieren sie eine Sprache, die andere (in diesem Fall Frauen) abwertet. Und es bleibt überraschend, dass sich im Jahr 2017 ausgerechnet Künstler beziehungsweise Gruppen so äußern, die sich einem links-aufgeklärten Milieu zuordnen lassen.
Als der österreichische Sänger Falco 1985 das Stück „Jeanny“ veröffentlichte, löste er damit einen der größten Skandale der deutschsprachigen Popmusik aus. Der Musiker singt darin aus der Sicht eines Entführers und mutmaßlichen Vergewaltigers über und zu seinem Opfer, einem jungen Mädchen. Der Vorwurf lautete, der Song verharmlose oder verherrliche Verbrechen. Fraueninitiativen riefen zum Boykott des Liedes auf, diverse Radiosender in BRD und DDR schlossen sich an. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften prüfte eine Indizierung des Stückes, lehnte sie am Ende jedoch mit der Begründung ab, der Text lasse mehrere mögliche Interpretationen zu.
Im Jahr darauf veröffentlichte die Berliner Punkrock-Band Die Ärzte das Lied „Geschwisterliebe“. Darin heißt es: „Sind unsere Eltern auch dagegen / Ich würd’ dich gerne mal flachlegen / Ich hoffe, dass du keine Kinder kriegst / Weil du doch schließlich meine Schwester bist“. Da das Stück in der Lage sei, „Jugendliche sexualethisch zu desorientieren“, wurde das gesamte Album indiziert, „Geschwisterliebe“ darf in Deutschland bis heute weder öffentlich aufgeführt noch beworben oder Jugendlichen zugänglich gemacht werden.
Hat sich also seit den 1980er-Jahren die Grenze des Sagbaren verschoben?
Hat sich also seit den 1980er-Jahren die Grenze des Sagbaren verschoben? Sind wir unempfindlicher geworden für Aussagen, die sich schädlich auf Heranwachsende auswirken können? Indiziert wird auch heute noch. Mehrere Alben des Rappers Bushido dürfen wegen der Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen nur an Erwachsene verkauft werden. Nichtsdestotrotz wurde Bushido im Jahr 2011 ein Preis für Integration verliehen, seine Musik wird genau wie die von den ähnlich textenden Rappern Kollegah und Haftbefehl im Radio gespielt und mitunter von sich als feministisch verstehenden AutorInnen beklatscht.
Vielleicht liegt der Unterschied zwischen den Texten von Falco und den Ärzten zu den aktuellen Frauenbeschimpfungen darin: Die Thematisierung von Vergewaltigung und Inzest rührt an Tabus (und das Wort bedeutet wörtlich: das, was man nicht sagen darf), während die Bezeichnungen „Hure“, „Nutte“ und „Bitch“ vielen gar nicht falsch vorkommen. Sagen Jay-Z, Rihanna und Beyoncé doch auch, gehört zum Hip-Hop dazu. Im Song „Flawless“ zititiert Beyoncé etwa die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie aus ihrem berühmten TEDx-Talk „We should all be feminists“, im selben Song rät sie ihren Geschlechtsgenossinnen jedoch: „bow down, bitches“.
Abgesehen von diesem Sonderfall einer Musikszene erleben wir derzeit tatsächlich, dass sich die Grenze des Sagbaren verschiebt: Die aus den USA stammende Diskussion um Political Correctness ist auch in Deutschland im Gange. Sprache soll möglichst wenig diskriminierend sein, deswegen sagen wir nicht mehr „Neger“ oder „Fräulein“. Manche finden das kleinlich, aber die sind von solchen Formulierungen auch nicht betroffen.
Vielleicht handelt es sich bei den Schmähungen um das letzte Aufbäumen eines aus der Mode kommenden Maskulinismus
Im Fall von Kraftklub, Von wegen Lisbeth und Faber erinnert die neu entdeckte Lust am Schimpfwort ein wenig an kleine Kinder, die wissen, dass sie die bösen Worte nicht in den Mund nehmen dürfen, aber entdeckt haben, dass man die Eltern damit ärgern kann. „Hihi, ich hab Nutte gesagt!“ Aber wie bei Sechsjährigen kann man getrost darauf vertrauen, dass die Phase auch irgendwann wieder vorbeigeht. Wenn sich, wie jetzt im Fall der Indie-Beschimpfer, zudem noch eine Diskussion darüber entspinnt, was zulässig ist und was nicht, dann geht es tatsächlich um Grenzen. Indem sie übertreten und diese Übertretungen diskutiert werden, werden gesellschaftliche Regeln neu verortet und gefestigt.
Vielleicht handelt es sich bei den Schmähungen auch um das letzte Aufbäumen eines aus der Mode kommenden Maskulinismus – die letzte Chance, sich als abgehängter Macho noch mal in aller Öffentlichkeit misogyn, also frauenfeindlich, zu äußern, bevor es hoffentlich für sehr lange Zeit endgültig als unangemessen und falsch gilt. So gesehen sind all diese Songs fast gute Nachrichten.
Illustration: Thomas Weirich