Poster kann man nicht kippen. Poster lassen keine frische Luft herein und kein Licht. Poster sind ein schlechter Ersatz für Fenster, aber Martin lebt im Keller und ein Poster ist immer noch besser als die Kellerwand. Der Keller kostet 350 Euro im Monat und liegt fünfhundert Meter vom Straßburger Europarat entfernt. Die fünfhundert Meter geht Martin morgens um neun und abends um sechs, seit zehn Wochen schon. Martin ist Praktikant, er übersetzt Briefe, er telefoniert, er hält Abgeordneten, die grußlos hereinkommen, die Tür auf. Martin ist 26 und arbeitet sehr günstig, nämlich kostenlos - wie zuvor schon für einen renommierten Think Tank in London oder beim Europäischen Parlament in Brüssel.

Seit er an der elitären London School of Economics einen ausgezeichneten Uniabschluss in europäischer Sozialpolitik gemacht hat, läuft es immer gleich: Eine E-Mail mit der Bestätigung auf seine Bewerbung kommt, Martin packt einen Koffer und zieht in die neue Stadt. Er schickt seinen Freunden eine Rundmail mit der neuen Adresse und arbeitet los. Alles wie bei einem richtigen Job; nur dass am Ende des Monats nie Geld von seinem Arbeitgeber auf dem Konto ist, sondern eine Überweisung von Martins Eltern. Generationsforscher Jörg Tremmel, 34, kennt die Situation: "Wer sich für einen Beruf qualifizieren will, muss zunächst investieren. Es ist nicht per se ungerecht, wenn Arbeitgeber unbezahlte Praktikumsplätze anbieten. Ungerecht jedoch ist, dass die Jüngeren in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst heutzutage schlechter gestellt sind. Während sie sich von Praktikum zu Praktikum hangeln, pochen die Älteren noch auf die Zusagen, die ihnen vor dreißig Jahren gegeben wurden." Das bedeutet, die Alten haben Angst - Angst, dass ein gut ausgebildeter Martin kommt und ihren Platz wegnimmt. Oder ein anderer der 250.000 arbeitslosen Hochschulabsolventen aus Deutschland, die noch nie richtig erwerbstätig waren. Arbeiten darf Martin, aber bleiben darf er nicht. Auf die Lücke, die er hinterlässt, wartet schon der nächste Praktikant. Wegen dieser Entwicklung hat Tremmel die "Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen" gegründet, es geht ihm um Gerechtigkeit: "Die fetten Jahre sind vorbei - aber nur für uns Junge", sagt er. "Wenn Deutschland seinen Wohlfahrtsstaat zurückbauen muss, dann sollten Jung und Alt enger zusammenrücken und die Lasten gleichmäßig aufteilen." Solange das nicht geschieht, wird es für viele junge Akademiker wie Martin schwer bleiben, eine Stelle zu finden. Die Zahl der Jungakademiker/innen, die unter ihrem Ausbildungsniveau beschäftigt sind, hat sich heute im Vergleich zu den !980er-Jahren mehr als verdoppelt. Abends trifft Martin die anderen Europarat-Praktikanten. In geübtem Smalltalk-Englisch tauschen sie sich darüber aus, welches Praktikum als nächstes kommt, in vier oder acht Wochen. Das Studium haben sie beendet, schneller und ehrgeiziger als viele andere. Sie haben sich rechtzeitig umgesehen, haben alte Freunde und neue Lieben zurückgelassen, um endlich in die Nähe der Jobs zu kommen. Jetzt sind sie da, ohne ersichtliche Chance, ihrem Status als unbezahlte Hilfskraft zu entkommen. Aber bevor richtig Unbequemes kommt (Arbeitslosigkeit! Neuorientierung! Fabrik!), kommt ein neues Praktikum. Der Philosoph und Jungprofessor Felix Ekardt, nur sieben Jahre älter als Martin, hat diese Entwicklung analysiert: "Im Zuge der Individualisierung ist eine Haltung gewachsen, die immer größere Erwartungen und Hoffnungen auf ein kreatives und außergewöhnliches, individuelles Leben hegt - die aber gerade darum notwendigerweise immer häufiger enttäuscht wird. Es kann nun einmal nicht jeder Maler, Grafikdesigner oder Filmstar werden." Ein gutes Stichwort für Miriam.

Als die Kellnerin das erste Mal kommt und die Bestellung aufnehmen will, lächelt Miriam ratlos in die Speisekarte. Beim zweiten Mal wieder: lächeln, gucken und die Kellnerin zieht wieder ab. Das mit dem Entscheiden ist für Miriam, 25, schwer. Besonders seit nach der Schule ihr Leben einfach daliegt und von ihr selber geformt werden soll. "Ich habe das Gefühl, wenn ich mich für eine Sache entscheide, kann ich tausend andere Sachen nicht machen. Ich lege mich nicht gern fest", sagt sie und erzählt von den letzten fünf Jahren: Nach dem Abitur hat sie keine Lust mehr auf Lernen und will eine Schneiderlehre machen. Bis sie sich dazu durchgerungen hat, ist die Bewerbungsfrist schon abgelaufen. Als Ersatz macht Miriam ein Praktikum in einer Schneiderei, zwei Wochen lang. Die reichen, um das Thema Schneidern für immer ad acta zu legen. Ein paar Monate später ist sie Regiehospitantin bei einer Theaterproduktion, danach macht sie die Dekoration in Technoclubs, bastelt Masken, Skulpturen. "Das war die Zeit, in der ich dachte, ich könnte ja Künstlerin werden." Das Dekorieren bringt kein Geld. Geld kostet aber der Abendkurs, den Miriam danach belegt. Der ist nötig, um sich an der Kunstakademie bewerben zu können, mit einer vorbereiteten Mappe. "Da waren aber nur so unsympathische Totalchecker. Ich kam mir da irgendwie blöd vor", sagt Miriam. Das mit dem Kurs wird also nichts, damit wird's auch nichts mit der Bewerbung an der Akademie und der Kunst. Miriam arbeitet stattdessen in einem Kindermodengeschäft, sie braucht Geld zum Leben. Die Wohnung, immerhin, stellen ihr noch die Eltern. Es folgen viele Praktika, die Miriam nicht mehr in die richtige Reihenfolge bringen kann: Sie ist bei einer Filmproduktionsfirma, wo sie am Telefon die Gläubiger abwimmeln muss, monatelang. Sie kommt in ein kleines Musiklabel und zu einem Konzertveranstalter. Dort nimmt sie einmal jemand beiseite und sagt: "Mädchen, ich glaube, die Branche ist ein bisschen zu hart für dich." Miriam ist entmutigt, das Abitur schon vier Jahre her. Sie ist jetzt kurz davor, sich bei einer Schauspielschule zu bewerben, aber da ist sie mit 23 fast schon zu alt. Also schreibt sie sich in München für Theaterwissenschaften ein. Derzeit studiert Miriam, und wenn alles gut geht, ist sie in vier Semestern fertig. Wenn sie darüber spricht, wie es dann weitergeht, lächelt Miriam vage, genau wie vorher bei der Speisekarte: "Ich weiß nicht, wo es hingehen soll. Wenn ich daran denke, dass ich mich an der Kunstakademie hätte bewerben können, werde ich ganz unruhig. Ich sehne mich oft danach, dass sich diese Unruhe legt und nicht immer alle Möglichkeiten offen sind." Jörg Tremmel sagt dazu: "Freiheit ohne materielle Sicherheit ist nur halb so schön. Vor allem ist ein solches Schmetterlingsleben nur möglich, solange man noch keine Verantwortung übernehmen muss. Deshalb werden Eheschließungen und Geburten auch immer weiter hinausgeschoben." Martin war zielstrebig, ehrgeizig und weiß heute nicht, wie es weitergehen soll. Miriam war nicht zielstrebig, hat vieles ausprobiert und weiß auch nicht, wie es weitergehen soll. Es muss eine andere Lösung geben. Professor Ekardt glaubt, sie zu kennen: "Noch leistungsorientierter denken, noch mehr arbeiten, noch mehr lernen. Die innere Einstellung, die sich in einen dreihundertprozentigen Arbeitswillen übersetzt, ist der sicherste Schlüssel zum Erfolg. Kein Praktikum, kein Auslandsaufenthalt, kein noch so origineller Lebenslauf können ihn ersetzen." Das ist die Stelle, an der Johannas Geschichte passt.

Wenn man Johanna am Telefon fragt, was Freiheit für sie bedeutet, muss sie lange überlegen. Im Hintergrund klingen ungewohnte Vogelstimmen. Johanna ist gerade in Granada, danach geht es wieder zurück nach Passau und sobald wie möglich wieder nach Menorca. Sie ist frei, aber sie hat keine Zeit, darüber nachzudenken. Es gibt zu viel zu tun. Schließlich antwortet sie: "Das bringt mir nichts, das so theoretisch zu definieren. Ich gehe meinen Weg, ich weiß, was ich dafür tun muss. Wenn das Freiheit ist, bitte schön." Was Johanna tut: Nach dem Abitur macht sie sich mit einer großen Plastiktasche auf den Weg nach Menorca, um dort eine Ausbildung zur Goldschmiedin anzufangen. Nach Ende der Ausbildung stellt Johanna fest, dass ihr etwas anderes viel besser liegt als die praktische Arbeit mit Schmuck: Sie kann ihn verkaufen. Sie kann Leute überzeugen und begeistern. Das hatte sie schon als Schülersprecherin auf dem Gymnasium gemerkt. Dass das genauso gut klappt, wenn es darum geht, spanischen Schmuck in Deutschland zu vermarkten, erfährt sie während ihrer Ausbildung. Sie geht zurück nach Deutschland, erkundigt sich beim Arbeitsamt, was sie mit ihrer Idee vom Schmuckmarketing machen kann. Die Sachbearbeiterin winkt ab, Johannas Abischnitt von 2,6 sei zu schlecht, um Kulturwirtschaft zu studieren. Sie solle sich etwas anderes überlegen. Johanna hört nicht darauf, ihre Ausbildungsjahre werden als Wartezeit angerechnet, schon ist sie Studentin in Passau und holt sich das Wirtschaftswissen, das ihr zum Schmuckmarketing fehlt. Ihre Miete wird von den Eltern finanziert, aber Johanna muss in den Semesterferien Geld verdienen und arbeitet auf dem Bau, als Empfangsdame, als Kellnerin. Unbezahlte Praktika scheiden für sie aus. Johanna zimmert sich ihre Nische zurecht: "Goldschmiede gibt es sehr viele, aber sobald ich sage, dass ich ins Marketing gehen möchte, bin ich die Einzige. Aber weil es keinen klaren Weg gibt, muss ich alles selber lenken." Johanna hat keine Angst vor der Zukunft. Wenn sich nichts anderes ergeben sollte, sagt sie, dann arbeitet sie eben wieder auf dem Bau. Irgendwas geht immer. "Ich weiß, was ich kann - und dafür waren meine Ausbildung und alle die kleinen Jobs viel wert."

Johanna legt den Hörer auf und geht eine Runde reiten mit ihrem spanischen Pflegepferd Asti. Miriam würde morgen Abend gerne zum Kristofer-Aström-Konzert gehen, hat aber kein Geld. Ihren Nebenjob in einem angesagten Münchner Club hat sie grade vor zwei Wochen gekündigt, irgendwie hatte es ihr dort nicht mehr gefallen. Und Martin beendet in der nächsten Woche sein Praktikum in Straßburg, das Abschiedsgeschenk hat er von seiner Vorgesetzten schon bekommen: ein FC-Bayern-Trikot. Damit zieht er erst einmal wieder zu seinen Eltern nach Oberbayern. Zurück in sein Jugendzimmer, die alten Poster an der Wand.