„Es ist ein großer Unterschied, von der ‚informellen Wirtschaft‘ in Lagos nur zu hören oder sie tatsächlich zu erleben. Sie setzt jeden unter Druck.“ Mit „informeller Wirtschaft“ ist Korruption gemeint; in der westafrikanischen Megacity Lagos, dieser lärmenden und mit rund zehn Millionen Einwohnern größten Stadt Afrikas, ist sie das soziale Schmiermittel schlechthin. Fünfzig Naira für die Ausparkhilfe, zweihundert für den Polizeibeamten, „der einen mitten in der Nacht ohne ersichtlichen Grund anhält“. Bezahl den Richter, und du musst nicht ins Gefängnis, bestich den Zollbeamten, und du kannst schmuggeln, was immer du möchtest.
Für jede vorstellbare Transaktion gibt es in Lagos eine „angemessene Summe, die die Dinge ins Rollen bringt“ – das ist das Bild, dass sich Teju Cole im Jahr 2006 auf einer Reise in seine frühere Heimatstadt bietet. Als er sie antrat, hatte der als Kunsthistoriker, Fotograf und Schriftsteller arbeitende Cole, Autor des gefeierten New-York-Romans „Open City“ (2011), bereits 13 Jahre in den USA gelebt. Cole dokumentierte seine Eindrücke in einem Blog, das Buch „Jeder Tag gehört dem Dieb“ ging aus einer Serie von rund 30 Einträgen hervor.
Der zeitliche Abstand von fast zehn Jahren ist wichtig: Er macht „Jeder Tag gehört dem Dieb“ zu einem großartigen, persönlichen, aus der räumlich-zeitlichen Distanz heraus umso schärfer gezeichneten Porträt einer Stadtgesellschaft. Glasklar und präzise ist die in knappe, elegante Sätze gefasste Sprache, lakonisch kommentierend der Erzählton; er pendelt zwischen Verständnis und Unverständnis, erneut aufflammenden Heimatgefühlen und anhaltender Befremdung.
Liebenswerter Galgenhumor und improvisierte Kreativität
Coles Protagonist mag die Menschen in Lagos, er schätzt ihren Galgenhumor, die improvisierte Kreativität. Dem wuseligen Chaos in der Riesenmetropole kann er einiges abgewinnen. Doch aus der Anfangseuphorie des Wiedersehens erwächst schon sehr bald eine desillusionierte Distanz, in der sich das Gefühl von Fremdheit weiter verstärkt, derweil die Sorge um Lagos und Nigeria wächst. Die Sorge um das Land mit dem maroden Staatswesen und dem krassen Wohlstandsgefälle treibt ihn regelrecht um. Spürbar hilflos und resigniert kommen ihm die Bewohner von Lagos vor. Es „bricht mir das Herz“, notiert er einmal.
Wie ein roter Faden aus unzerreißbarem Garn durchzieht das Thema Korruption das gesamte Buch. Man könnte fast meinen, der namenlose Erzähler und Protagonist, den man ruhig mit seinem Autor verwechseln darf, fühle sich leibhaftig verfolgt von ihr. Ein Hauch Rechtsstaatlichkeit wäre ihm sehr lieb. Aber er weiß natürlich auch: „Das Geben und Nehmen von Schmiergeld“ wirft für viele Nigerianer, deren Löhne meist sehr niedrig sind, keine moralischen Fragen auf. Es sorgt dafür, dass überhaupt „etwas erledigt wird“, bisweilen mit einer Kalaschnikow vor der Nase.
Kaum weniger präsent als die Schmiergeldzahlungen ist die Gewalt in Lagos. Sie ist das zweite große Thema in Coles episodisch angelegtem Rundgang. Auf der Straße werden aus harmlosen Wortgefechten rasch blutige Auseinandersetzungen, die Reichen verschanzen sich und ihr Eigentum aus Angst vor Einbrüchen und Überfällen hinter hohen Mauern. Arbeitslose Jugendliche aus den Randbezirken, „area boys“ genannt, kapern Gütertransporte und treiben Bußgelder ein. Bei einem Familienausflug kommt es zu einer dramatischen Begegnung mit ihnen. Sie geht glimpflich aus.
Die Verdrängung macht den Ich-Erzähler wütend
Keine Frage, der Erzähler ist weniger souverän und objektiv, als er es mitunter gern wäre. Er hat eine klar wertende Haltung, seine Sicht auf die Dinge ist emotional gefärbt. Man muss das nicht alles teilen, aber darum geht es auch nicht. Schließlich ist „Jeder Tag gehört dem Dieb“ kein Sachbuch.
Enttäuscht reagiert der in kultureller Hinsicht rundum verwöhnte Wahl-New-Yorker auf die eher trostlose Landschaft institutionalisierter Kultur, die er in Lagos vorfindet, regelrecht wütend machen ihn gesellschaftstypische Verdrängungsleistungen: „Die Menschenladungen, die in New Orleans ankamen“, damit man sie dort Mitte des 19. Jahrhunderts als Sklaven verkaufen konnte, „stammten aus vielen Häfen, die meisten an der westafrikanischen Küste.“ Der geschäftigste Hafen von allen, schreibt Cole, „war Lagos“. Ein Geheimnis? Ja, schon. Aber eben nur deshalb, weil in Nigeria niemand etwas davon wissen will.
Vorstellungen ändern sich, Wünsche auch. Zu Beginn der Reise überlegte Cole, dauerhaft nach Lagos zurückzukehren. Am Ende kann davon keine Rede mehr sein. Der kulturelle Graben zwischen alter und neuer Heimat ist längst zu tief.
Michael Saager schreibt für verschiedene Zeitungen und Magazine, lebt in Berlin und wartet schon ziemlich gespannt auf Teju Coles angekündigtes großes Sachbuch über Lagos