Oliver Decker, 43, lehrt Sozialpsychologie an den Universitäten in Siegen und Leipzig. Er ist Mitautor verschiedener Studien zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland. Die Ergebnisse seiner Erhebung belegen, dass zu viele Menschen in Deutschland zu rechtsextremen Ansichten neigen.
fluter: Neulich ergab eine Studie, dass jeder fünfte Deutsche latent antisemitisch ist. Ein erschreckender Befund?
Oliver Decker: Absolut. Es gibt leider seit Jahrzehnten einen manifesten Antisemitismus in der Gesellschaft. Dass Juden aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute Vorteile ziehen oder nicht dazu beitragen, die Gesellschaft zu bereichern: Bei solchen Vorurteilen gibt es relativ große Zustimmung.
Dabei haben doch die meisten Menschen gar keinen Kontakt zu Juden.
Man darf nicht denken, dass ein Antisemit Kontakt zu Juden braucht, um Antisemit zu sein. Es ist sogar günstiger, wenn er den nicht hat. Kontakt zu Menschen steht dem Vorurteil im Weg, das ist bei den Islamhassern genauso.
Es gibt in der Studie auch positive Erkenntnisse – etwa dass heute viel weniger Menschen der Auffassung sind, Juden hätten zu viel Einfluss. Warum wird das nicht herausgestellt?
Die Medien betreiben ja oft eine starke Zuspitzung von dem, was die Wissenschaft sagt. Allerdings existieren gute Gründe, das nicht zu bagatellisieren, sondern den Finger in die Wunde zu legen. In unseren Untersuchungen gibt es die Aussage: Die Juden haben etwas Eigentümliches an sich und passen nicht zu uns. Da sagen ganz viele: Das stimmt doch, die Juden haben etwas Eigentümliches, aber das ist ja wunderbar. Das ist Antisemitismus im Gewand des Philosemitismus. Der antisemitische Reflex, das Anderssein der Juden herauszustellen, ist weit verbreitet.
Wird aber nicht oft die berechtigte Kritik an Israels Politik gegenüber den Palästinensern mit Antisemitismus verwechselt?
Ich sehe nicht, dass Kritik an Israel nicht geäußert werden darf. Sie werden in der gesamten Presse von links nach rechts jede Menge Kritik an Israel finden bis hin zu antisemitischen Stereotypen. Adorno hat das in den 50er-Jahren „Krypto-Antisemitismus“ genannt – dass also der Antisemit in der Rolle des Verfechters demokratischer Werte auftritt, um sein Ressentiment zu verbreiten, das er dann mit den Worten „Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen!“ anmoderiert.
Wie die Fans von Thilo Sarrazins Thesen über die bildungsunwilligen Migranten …
Sarrazin ist der Lautsprecher einer Mehrheit, die angeblich nichts sagen darf. Der Erfolg seines Buchs zeigt, dass es ein ungeheures Reservoir für einen ressentimentgeladenen Politiker gibt. Momentan haben wir bei den rechtspopulistischen Parteien niemanden, der das Potenzial nutzt.
Antisemitismus ist ja nur eine Dimension von Rechtsextremismus. Welche sind denn die anderen?
Fremdenfeindlichkeit ist natürlich das zentrale Element, sozusagen die Einstiegsdroge. Dann gibt es die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, den Wunsch nach einem Führer. Weitere Merkmale sind der Chauvinismus – also ein ausgeprägter Nationalismus, dem das Schicksal anderer Länder egal ist –, der Sozialdarwinismus – die Idee, dass es wertes und unwertes Leben gibt –, und schließlich die Verharmlosung des Nationalsozialismus. Jemanden, der auf allen Dimensionen zustimmt, bezeichnen wir als einen manifesten Rechtsextremen mit geschlossenem Weltbild.
Und wie viele gibt es davon?
Wir müssen von Wellen bei einem hohen Niveau sprechen, das bei acht bis zehn Prozent liegt – und das sind nicht die Schläger. Jeder dritte Deutsche ist zudem ausländerfeindlich, und immerhin fünf Prozent befürworten eine Diktatur. Das sind recht klare Befunde.
Welche Rolle spielen denn die Eltern?
Eine große. Jemand, der in seiner Kindheit Gewalt und geringe emotionale Wärme vermittelt bekommt, neigt eher zu solchen Weltbildern. Das demokratische Klima im Elternhaus entscheidet. Da geht es nicht nur um Schläge, sondern auch darum, dass der kindliche Fantasieraum und die kindlichen Bedürfnisse als gleichberechtigt anerkannt werden. Nicht, dass Erwachsene keinen relevanten Wissensvorsprung hätten, aber die Frage ist: Wie viel Akzeptanz und Wärme gibt es und welches Gespür für kindliche Bedürfnisse? Da müssen wir feststellen, dass es bei Kindern, die autoritär erzogen werden, eine Identifikation mit Macht und Stärke gibt. Irgendwann muss sich das Kind eben unterwerfen, und dann bejaht es diese Unterwerfung, neigt dadurch auch als Erwachsener einem Macht- und Führertum zu und lehnt demokratische Aushandelsprozesse ab.
Als Laie denkt man, dass vor allem Arbeitslose einen Hass auf alles Fremde haben. Stimmt das?
Es ist tatsächlich so, dass man bei Menschen mit Arbeitslosigkeitserfahrung eher auf rechtsextreme Einstellungen trifft. Zudem gibt es ein deutliches Stadt-Land-Gefälle. In Städten herrscht eher ein liberaleres Klima, es gibt weniger Akzeptanz für rechtsextreme Ideologien.
Gibt es Unterschiede beim Alter?
Mit dem Alter nehmen die rechtsextremen Einstellungen zu. Da greift die sogenannte Kontakthypothese, die besagt: Je weniger Kontakt jemand mit Fremden hat, desto fremdenfeindlicher wird er. Und Kontakt heißt nicht, dass man mal gemeinsam mit der Straßenbahn fährt, sondern zusammenarbeitet und auch ins Gespräch kommt. In solchen Fällen nimmt die Akzeptanz von Ausländern deutlich zu.
Der Kontakt mit Fremden wird oft schon in der Schule vermieden. Auf den Gymnasien gibt es ja signifikant weniger Schüler mit Migrationshintergrund.
Es ist tatsächlich ein Riesenproblem, wie stark soziale Konfliktlagen ethnisiert werden. Heute sind die Bildungsverlierer junge Männer mit Migrationshintergrund in Städten. Da wird so getan, als wäre das ein Problem der Migration oder der Kultur, aus der die Leute kommen. Es ist aber ein soziales Problem, bei dem der Staat gefordert ist, mit Programmen zu intervenieren, um allen die gleichen Chancen zu geben und die Heterogenität an den Schulen zu befördern. Stattdessen wird akzeptiert, dass Eltern in Berlin oder Hamburg händeringend versuchen, ihre Kinder in Schulen ohne Ausländer unterzubringen, sodass es zu einer Zementierung der Exklusion kommt.
Man bleibt also lieber unter sich, um in einem homogenen Milieu den wirtschaftlichen Aufstieg nicht zu gefährden?
Absolut. Die Chancenungleichheit ist ein Demokratiedefizit. Man kann sogar auf nationaler Ebene sehen, wie der Fetisch des Wirtschaftswachstums über eine Entsolidarisierung zu weniger demokratischem Denken führt. In der Rede vom Standort schimmert kaum verdeckt eine Nationalstaatslogik durch, die alle unter ein gemeinsames Interesse sammelt, nämlich das der wirtschaftlichen Prosperität. Das ist Nationalismus und eigentlich antidemokratisch. Denn es gibt ja gar kein gemeinsames Interesse, weil vom Wohlstand längst nicht alle profitieren. Das ist ein undemokratischer Diskurs. Wir müssen uns mit Blick auf die anstehenden Probleme wie Klimaerwärmung und Wanderungsbewegungen die Frage stellen, ob unsere Demokratie stärkeren Belastungen überhaupt standhält oder ob es nur eine Schönwetterdemokratie ist. Nach dem Motto: Wenn es eng wird, lassen wir keinen mehr rein und keine anderen Meinungen zu.
Befeuert der globale Wettkampf eine Art nationalen Behauptungswillen?
Es gibt ja eine enge Verbindung zwischen dem eigenen Wohlstand und abwärtsdriftenden Regionen in der Welt. Aber die wird nicht thematisiert. Wir haben eine derartige Entpolitisierung in der Bevölkerung, dass zum Beispiel ein Zusammenhang zwischen unserem Exportüberschuss und der Krise anderer europäischer Länder gar nicht gesehen wird. Stattdessen gibt es mittlerweile sogar Stimmen, die sagen, das Beste, was Griechenland passieren kann, ist eine Diktatur. Die Frage demokratischer Verfahren hat eine geringe Akzeptanz unter der Zuspitzung von ökonomischen Problemlagen.
Es gibt ja auch das Bild vom Boot, das voll ist. Sobald es eng wird, fange ich an, andere auszuschließen.
Dieser Automatismus ist Gott sei Dank nicht ganz so zwingend, sonst gäbe es ja unter schlechten Bedingungen nur Nazis. Das ist nicht der Fall. Es gibt eine Menge Menschen, die arm, aber dennoch nicht rechtsextrem sind, sondern sich engagieren. Sogar öfter als wohlhabende Menschen. Man muss sich in solchen Fällen immer fragen: Wem nützt die Rede vom „vollen Boot“? Mit den Vorbehalten gegen Ausländer kann man wunderbar von der Frage ablenken, warum denn das Boot voll ist. Wir sind doch eine reiche Gesellschaft. Die Frage ist nur, wie der Reichtum verteilt wird.
Aber es gibt doch ein Bewusstsein dafür, dass die bloße Wachstumsideologie nicht vernünftig ist und wir mehr Verteilungsgerechtigkeit benötigen. Man muss sich nur die Occupy-Bewegung ansehen.
Das ist sehr positiv, aber wie die sich entwickelt, muss man abwarten. Es ist aber schon so, dass sich über die zivilgesellschaftlichen Initiativen wellenförmig immer wieder Menschen politisieren lassen: Das war mit Attac so, mit Stuttgart 21, mit der Occupy-Bewegung. Es gibt also den Ruf nach mehr demokratischer Partizipation, der aber leider allzu oft stigmatisiert wird, etwa als Linksextremismus. Gewalt kann nicht Mittel der Politik sein, aber es ist skandalös, dass als linksextremistische Straftaten nicht zuletzt auch zivilgesellschaftliche Aktionen gegen Rechtsextreme gelten, wie etwa Sitzblockaden. Zumal auf der anderen Seite, wie durch die Morde des NSU erkennbar wurde, die Gewaltdelikte von Rechtsextremen deutlich unterschätzt werden.
Hat das vielleicht damit zu tun, dass manche Ziele einer extremen Rechten von vielen in der Bevölkerung stillschweigend bejaht werden, etwa der Ruf nach Zucht und Ordnung?
Es gibt nicht nur die inhaltliche Nähe des Denkens von Rechtsextremen zur Mitte, sondern auch den Wunsch nach Ruhe und Unsichtbarkeit. Nach dem Motto: Was man nicht wahrnimmt, gibt es nicht. In unseren Untersuchungen wird deutlich, dass es immer ein Verschweigen von rechtsextremer Gewalt gab, darunter fällt auch eine mangelnde Berichterstattung. Es gibt mancherorts Abmachungen zwischen Polizei und Presse, über rechtsextreme Gewalt nicht zu berichten.
Konnten deshalb auch die Terroristen des NSU so viele Jahre morden?
Die lange Zeit als sogenannte „Dönermorde“ behandelten Taten des NSU sind eben nicht nur von der Polizei, sondern auch medial als Feme- und Mafiamorde behandelt worden. Wir haben es offensichtlich mit einer rassistisch eingefärbten Beobachtung zu tun; mit einem Beobachtungsfehler, der nicht nur vonseiten der Polizei oder der Regierung, sondern von uns allen gemacht wurde. Dass man die wahre Tätergruppe nicht in Betracht zog, ist ein heftiger Befund. Es gibt einen blinden Fleck in der Gesellschaft.
Aber doch nicht nur in Deutschland. Rechtsextremismus gibt es in vielen Ländern.
Die größten Konfliktfelder gibt es in Osteuropa – etwa in Ungarn. Wir haben aber keinen Grund, auf andere zu zeigen: Der Sockel der rechtsextremen Einstellungen ist hoch und kann sogar leicht höher werden. Ich halte es da mit Karl Kraus, der gesagt hat, am Nationalismus finde er nicht die Abwertung anderer Nationen am unsympathischsten, sondern die Aufwertung der eigenen.
Schüler stöhnen oft darüber, dass sie die Geschichte des Nationalsozialismus nicht mehr hören können. Haben wir die Geschichte wirklich ausreichend aufgearbeitet?
Bei mir ging es in der Schule mehr um die Ottonen als um das Dritte Reich. Es mag ja heute in allen Lehrplänen stehen, aber mein Eindruck ist: Eine grundlegende Auseinandersetzung findet in der Schule auch heute noch nicht statt, im Rest der Gesellschaft allerdings auch nicht. Es gab irgendwann in den 70er-Jahren eine Wende dahin, dass es plötzlich thematisiert wurde. Dann hat das wieder nachgelassen. Es ist doch kein Wunder, dass jetzt erst im BKA und in manchen Ministerien die eigene Rolle im Dritten Reich aufgearbeitet wird. Da hat nicht überall schon 50, 60 Jahre lang Aufarbeitung stattgefunden. Das stimmt doch nicht, genauso wenig wie in der Schule.
Was erhoffen Sie sich für die Zukunft? Wie kann man rechtsextreme Einstellungen zurückdrängen?
Um es mit Willy Brandt zu sagen: Mehr Demokratie wagen. Ich plädiere für eine radikale Demokratisierung: die Anerkennung der Positionen des Anderen, den Anderen als Anderen wahrnehmen und gelten lassen. Wenn wir das als pädagogischen und politischen Maßstab nehmen, ließe sich rechtsextremen Einstellungen vorbeugen. Wenn das außerdem auch die Maxime der Berichterstattung wäre, wenn also die „Bild“-Zeitung auf ihren Pranger verzichtet, noch besser.
Aber den Pranger gibt es doch auch im Fernsehen, in Talentshows wie „Deutschland sucht den Superstar“.
Das ist praktizierter Sozialdarwinismus. Wenn wir etwas bewirken wollen, dann muss Demokratie erfahrbar werden – von der Krippe bis zum Altenheim.