Brigitte ist jetzt 48 und immer noch Brischitt. Wie sie ihren Vornamen ausspricht, wenn sie über sich spricht, als sei das Französisch halt in ihr drin und komme aus ihr heraus, mitten im deutschen Satz, kurz, nicht klebrig, mit hartem „t“: Das ist das Souvenir, das Brigitte Beyer aus ihrem alten Leben mitgebracht hat. Im neuen Leben sitzt Brigitte Beyer an ihrem Esstisch in Berlin und sagt, einen Tag vor ihrem 18. Geburtstag sei sie einfach weg aus Coburg. Nach New York, hatte sie überlegt, nach Paris ist sie gegangen, 300 Mark Überlebensetat, „es war Mai und grau, die Stadt schlecht und voll“. Im Sommer dann fiel ihr auf, worauf sie lange nicht mehr verzichten wollte: Architektur, Ästhetik, Genuss.
Sie sagt: „Danach ist der Zauber passiert.“ Brigitte Beyer war noch Au-pair, als ein Grafiker sie dabei beobachtete, wie sie eine Geburtstagskarte zeichnete. Bald darauf wurde sie Art-Direktorin zweier großer Werbefirmen, die Seine ein paar Ecken weiter, Aufträge für Shell, Renault, Vichy, L’Oréal und Lancôme. Manchmal verwaltete sie acht Budgets zugleich, „richtige Männerbudgets“, erzählt Beyer, „so viel Geld, wie ich verdient habe, habe ich gar nicht gebraucht“, und dass sie damals beinah täglich ins Kino ging, das erste Mal Austern aß und süchtig nach ihnen wurde. Der Gewissenskonflikt kam, als sie Werbung für eine Firma machte, die Waffen herstellt. „Brischitt“, habe sie sich gesagt, „du bist doch Pazifistin.“ Sie gab ihren Beruf auf, die Vierzimmerwohnung im 17. Arrondissement, 74 Quadratmeter, Place de Clichy, verließ Paris nach 16 Jahren und studierte Landschaftsarchitektur in Bordeaux, École Nationale Supérieure d’Architecture et de Paysage, 20 Studienplätze, einer davon ihrer.
Endlich wollte Brigitte Beyer auch das Kind, das ihr Freund sich schon seit Langem wünschte. Studium und Baby, glaubte sie, das passe schon zusammen, auch wenn es ab und zu schwierig gewesen sei, mit einem Künstler als Mann. „Wenn ich das Baby erst mal habe, dachte ich“, sie zieht die Beine an, hoch auf den Stuhl und vor den Oberkörper, „wird auch er verstehen, wie man richtig liebt.“ Und dann war Luca gerade auf der Welt, als sie von der Affäre ihres Freundes erfuhr. Sie zog nach Berlin – und blieb. „Eigentlich wegen Luca“, sagt sie, außerdem habe sie gut sechs Jahre gebraucht, um nach dem Betrug wieder Mensch zu werden.
Wenn Brigitte Beyer so redet, die Augen hell, die Stimme auch, man würde sie sich lieber auf einem Barhocker vorstellen, Rotwein vor sich, den Kopf in den Nacken gelegt, als in Neukölln, Ecke Maybachufer, der Schimmelpilz an der Wand, der Kühlschrank neben dem Klavier. Aber so ist das eben, seit sie „irgendwie rumkrebst“, wie sie sagt. Seit sie getrennt ist, längst schon, keinen Job findet, Lucas Vater nur noch Luca Unterhalt zahlt und nicht mehr ihr, sie sich von ihren Ersparnissen finanziert, von 1000 Euro Arbeitslosengeld und 184 Euro Kindergeld im Monat. Brigitte Beyer ist niemand, den die Armut auffrisst. Sie ist jemand, der die Armut nicht gewohnt war und nun zum Alltag hat.
Studium und Kind, dachte sie, das passe schon zusammen. Es passte aber nicht
„Luxuriös wären 2000 Euro“, sagt sie, damit wären die 700 Euro Miete ein kleineres Problem, sogar die 900 Euro erträglich, auf die der Vermieter erhöhen will. So aber gehe alles für Fixkosten drauf, die Wohnung, Versicherungen. Der Rest sei bescheiden. Kein Babysitter, kein Kino, bestimmt keine Austern. Und klar habe sie erhöhte Ansprüche, ihr Sohn sei hier aufgewachsen, sie wolle ihm nicht das Zimmer nehmen. Sie wolle sich auch kein Zimmer mit ihm teilen, er sei immerhin schon zehn. Sie wolle ihm auch nicht mehr sagen müssen, dass sie ihm kein Eis kaufen kann. Vor allem wolle sie nicht „so dastehen“. Wie dastehen? „Als kriegte ich nichts auf die Reihe.“
Dass Brigitte Beyer manchmal so denkt, sie lässt die Beine auf den Boden sinken, habe mit ihrem Selbstbewusstsein zu tun. Nach ihrem Uniabschluss habe sie gedacht: „Jetzt hab ich ein Diplom und kann nichts.“ Mit ihrem Diplom fing sie in einem Berliner Landschaftsarchitekturbüro an, sie war morgens vor den anderen da, um nachmittags pünktlich gehen zu können, Luca von der Kita holen. Drei Jahre habe sie fast für ein Praktikantengehalt gearbeitet. Dann wurde sie entlassen, weil man sich ihre Stelle nicht mehr leisten konnte. Frau Beyer, glauben Sie, Sie sind überqualifiziert? Beyer zögert. „Ich glaub, ich bin zu alt.“ Ihre Antwort klingt matt. „Und ich hab ein Kind.“ Wenn sie früher im Büro gesagt hat: „Dieses Wochenende ist Luca bei mir“ – jedes zweite ist er beim Vater –, hörte sie oft den Satz: „Wir erwarten, dass du trotzdem kommst.“ Sie hat meistens versucht, Luca bei Freunden unterzubringen. Funktioniert hat es selten.
Es gibt keine Wertschätzung für Familienstrukturen, die aus der Norm fallen
Irgendwann, sie hatte noch eine Absage auf noch eine Bewerbung bekommen, ist sie trotzig geworden, Putzfrauen verdienen hier besser als Akademikerinnen!, sagte sie da oft. Ob sie putzen gehen solle? Besser, glaubte sie dann, ich leg noch mal los, als Selbstständige diesmal, doch wieder Werbung, doch wieder Grafik. Es gab einen Gründungszuschuss, „es geht ja alles“, dachte sie, und wurde krank. Jetzt gab es zwei Operationen in kurzen Abständen und natürlich die Frage: Warum jetzt? Brigitte Beyer lacht ihr Pech weg, die Fältchen um den Mund, die Jogginghose an, die Kordeln des Kapuzenpullis vor dem Hals zur Schleife gebunden.
„Es gibt Parameter“, sagt sie, „die um dich herumgebaut sind, innerhalb derer du versuchst zurechtzukommen. Die Mieten werden teurer, die Löhne passen sich nicht an. Kinder sollen in Institutionen, Kindergärten, Schulen. Ich war 38, als Luca geboren wurde. Ich wollte ganz viel richtig machen und hab ganz viel falsch gemacht. Ihm zu viel abgenommen. Ihn nicht zur Selbstständigkeit erzogen. Aber ich denke, Väter und Mütter sind eine Investition in die Zukunft, es gibt nur keine gesellschaftliche Wertschätzung für sie und für Familienstrukturen, die aus der Norm fallen: für Eltern, die ihr Kind nicht zu zweit und zusammen erziehen und beide Vollzeit arbeiten.“
Heute ging ihr Wecker um halb sieben, Luca ist zu ihr ins Bett gekrochen, ein paar Minuten wenigstens, sie sind aufgestanden, Frühstück, Pausenbrot, hast du dein Russischbuch?, nehmen wir das Rad?, schnell zurück nach Hause, das CD-Cover, das sie entwerfen muss, die Fortbildung nächste Woche, die Mails an den Vermieter, ob das ein Rechtsstreit wird, der Schulgong am Mittag, Essen kochen, Hausaufgaben, die Comichefte auf der Couch, die Bücher auf dem Teppich, wieder das CD-Cover, was, wenn mein ALG I ausläuft, reicht es, um uns zu ernähren? „Mama, lies mir vor: ,Der Drache mit den veilchenblauen Augen‘.“ Manchmal steht sie abends in der Küche und beschließt, sich ihre Entwürfe nicht noch mal anzusehen und stattdessen einfach den Wasserhahn aufzudrehen und zu spülen. Das macht Brischitt dann glücklich.