Dass man ihnen ein Kohlekraftwerk direkt vor die Nase setzen würde, das wussten sie schon lange. Prinzipiell waren sie auch nicht dagegen. Aber als sie die ersten Entwürfe sahen und ihnen die Ausmaße klar wurden, bekamen sie einen Schreck. So einen Klopper? Das konnten sie sich nicht vorstellen. Sie fuhren zu dem gut 100 Kilometer entfernten Kohlekraftwerk in Niederaußem, das mit 200 Metern den höchsten Kühlturm der Welt hat. Anwohner erzählten ihnen von riesigen Kühlschwaden, die den Himmel verdunkeln. „Das war der absolute Horror“, erinnert sich Marieluise Greiwing und schüttelt den Kopf, dass die filigranen Stäbchen ihrer Ohrringe verrückt spielen. „Da war klar, wir müssen was tun.“ Ihr Mann, die Unterarme fest auf dem Tisch verschränkt, fügt hinzu: „Man wird von dem ganzen Komplex regelrecht erdrückt.“ Wo die Ausläufer des Ruhrgebiets in das Grün des ländlichen Münsterlandes übergehen, am größten Kanalknotenpunkt Europas, wo vier Kanäle aufeinanderstoßen, dort, wo die Menschen „datt“ und „watt“ sagen, aus Gegnern „Gechner“ werden, betreiben die Greiwings etwas außerhalb von Waltrop eine konventionelle Schweinezucht. Heinrich Greiwing ist Mitte 50 und Landwirt, seine Frau ist zehn Jahre jünger und staatlich geprüfte Wirtschafterin. Die Söhne lernen Landwirtschaft, der älteste will einmal den Hof weiterführen.

Neben den 2.000 Schweinen haben die Greiwings seit rund fünf Jahren ihres Erachtens mit einer ganz anderen Schweinerei zu tun: Der Düsseldorfer Energiekonzern E.on will in unmittelbarer Nähe zu ihrem Hof das modernste und größte Kohlekraftwerk Europas errichten. Die sogenannte Feuerungswärmeleistung soll 2.600 Megawatt, die elektrische Nettoleistung 1.055 Megawatt betragen. Das entspricht der elektrischen Leistung eines mittelgroßen Atomkraftwerks. Dafür werden 3,5 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr benötigt, die zum Teil aus Australien kommt. Mehr als die Hälfte der Energie wird über einen Kühlturm an die Umgebung abgegeben, der 180 Meter hoch ist und den Kölner Dom um 23 Meter überragt.

Der Kühlturm überragt den Kölner Dom um 23 Meter

Die Greiwings wohnen etwa 1.300 Meter Luftlinie von der Kraftwerksbaustelle entfernt. Die roten Lichter des Kühlturms sind durch das Wohnzimmerfenster zu sehen. Marieluise und Heinrich Greiwing sitzen an einem langen Holztisch und wirken genauso aufgeräumt wie ihr geräumiges Wohnzimmer mit dem weißen Porzellan mit Goldrand in dem hellen Holzschrank. Sie erzählen, wie es zu der David-und-Goliath-Geschichte Bauern gegen Energieriese kam. „Wir hatten Angst um unsere Existenz“, sagt er. „Wir wollten uns später von unseren Kindern nicht vorwerfen lassen, nichts unternommen zu haben“, sagt sie. Sie besuchten öffentliche Informationsveranstaltungen, gründeten einen nachbarschaftlichen Zusammenschluss, trafen sich mit Umweltingenieuren und Anwälten, sprachen mit Parteienvertretern, schrieben Ratsmitglieder an, fuhren zu Ministerien nach Düsseldorf, zum Europaparlament nach Brüssel, recherchierten, verteilten Flugblätter, verkauften in der Fußgängerzone Kaffee, Glühwein und Krapfen, bekamen ideelle und finanzielle Unterstützung von Privatpersonen und Initiativen aus der Umgebung. Die Stadtverwaltung in Datteln, auf deren Gebiet sich das mehr als 75 Hektar große Kraftwerksgelände befindet, hatte ihnen weismachen wollen, dass das Kraftwerk keinerlei negative Folgen hätte, auch wenn der Mindestabstand von 1.500 Metern unterschritten würde. Luftschadstoffe, Schallimmissionen, Staubniederschläge, die klimatischen Auswirkungen des Kühlturmes – das alles würde die Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht beeinträchtigen, so der Tenor des Bebauungsplanes, den das örtliche Planungsamt und die Bezirksregierung in Absprache mit dem E.on-Management in nicht einmal zwei Jahren aufgestellt hatten.

Greiwings Einwände wurden also vom Tisch gewischt, sie selbst fühlten sich nicht ernst genommen, für dumm verkauft und belächelt. „Die Arroganz der Macht“ nennen sie das. „Die Verarschung war, auf Deutsch gesagt, gang und gäbe“, sagt Heinrich Greiwing, ohne seine verschränkten Arme vom Tisch zu lösen. Als sie eine Kohleeinhausung, eine Art Abschirmung gegen den Kohlenstaub, forderten, sei ihnen gesagt worden, dass der Staub im Zaun hängen bleibe. Weil eine Bürgerinitiative nicht klagen kann, sondern nur Privatpersonen, klagten die Greiwings gegen den Bebauungsplan. „Wir wollten probieren, ob es in Deutschland Gerechtigkeit gibt“, sagt Bauer Greiwing. Rund zwei Jahre später entschied das Oberverwaltungsgericht Münster über das Aktenzeichen 10 D 121/07.NE. Und es geschah ein kleines Wunder. Das Gericht erklärte den Bebauungsplan für unwirksam. Es nahm ihn derart auseinander, dass selbst den Greiwings ganz schwindelig wurde. Er stimme nicht mit den Zielen der geltenden Landesplanung überein, verstoße gegen emissionsrechtliche Bestimmungen, der notwendige Abstand von 1.500 Metern sei nicht eingehalten worden, die Auswirkungen des Kühlturms seien nicht angemessen beurteilt worden und, und, und. Das Gericht wies aber auch darauf hin, dass es nicht grundsätzlich verwehrt sei, ein Steinkohlekraftwerk in Datteln zu planen, und wies auf die Möglichkeit eines sogenannten Zielabweichungsverfahrens hin. Das bedeutet, dass im Einzelfall von der Landesplanung abgewichen werden kann. Eine Revision ließ das Gericht nicht zu. Dagegen klagte E.on – und verlor erneut. Das Bundesverwaltungsgericht Leipzig, das höchste deutsche Verwaltungsgericht, wies die Beschwerde zurück, und die Greiwings bekamen abermals recht.

„Aber vor Gericht und auf hoher See sind wir in Gottes Hand.“

Sie brauchten damals einige Tage, um ihren Erfolg zu verdauen. „Wir wussten immer, dass wir recht haben“, sagt Marieluise Greiwing. „Aber vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand.“ „Man muss hieb- und stichfeste Argumente haben“, fügt ihr Mann hinzu. Als vor vielen Jahren eine Ortsumgehungsstraße für Datteln und Waltrop gebaut werden sollte, die direkt an seinem Hof vorbeiführen sollte, klagten er und andere Anwohner gegen das Land Nordrhein-Westfalen – und gewannen. „Bis heute ist die Straße nicht gebaut“, sagt Heinrich Greiwing zufrieden. Rechtsanwalt Philipp Heinz aus Berlin, der die Greiwings vertritt, hat sich als Schüler dafür eingesetzt, dass die Schulmilch in Pfandflaschen geliefert wird, später kämpfte er für dosenfreie Zonen. Die erzielten Erfolge haben ihn so motiviert, dass für ihn früh feststand, sein Hobby zum Beruf zu machen. Seit mehreren Jahren ist er auf Umwelt-, Immissions- und Planungsrecht spezialisiert. Es sei einem Anwalt nicht oft vergönnt, in so einem Verfahren so klar recht zu bekommen. „Das passiert nur alle Jubeljahre.“ Dabei hätten E.on und die Genehmigungsbehörden „hohe Hürden“ aufgebaut. Um trotzdem Erfolg zu haben, müssten die Kläger „unheimlichen Einsatz“ zeigen. Ohne die Vernetzung mit Fachleuten und Umweltverbänden gehe zudem gar nichts. „Sonst ziehen die einen über den Tisch.“ Zuweilen gehe es den Politikern darum, Verfahren möglichst einzuschränken, Ausschlussfristen einzuführen, den Klageweg zu verkürzen, Widersprüche wegfallen zu lassen. „Aber Datteln zeigt, dass es sich lohnen kann.“ Im Moment, freut sich der Anwalt, stünden die Zeichen auf Abriss.

Greiwings Engagement gefällt natürlich nicht allen, erst recht nicht den Stadtverordneten in Datteln, die dem später vom Gericht kassierten Bebauungsplan zugestimmt haben – darunter auch der Bürgermeister. Der 58-Jährige mit weißem Schnauzer, randloser Brille, schwarzer Strickjacke über hellgrünem Hemd und dunkelrot gestreifter Krawatte sitzt in seinem Büro zwischen der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, und einem Fußballtrikot an der Wand mit dem Aufdruck „1. Aushilfskraft“ und „79 Prozent“. Mit diesem Ergebnis wurde er bei der vorletzten Bürgermeisterwahl gewählt. „Datteln braucht das Kraftwerk“, sagt Wolfgang Werner. „Es hört sich vielleicht etwas übertrieben an, aber Deutschland braucht das Kraftwerk“. Er referiert über Fernwärmeversorgung, „weniger CO2 bei gleicher Leistung“, Arbeitsplätze, die „nicht unwesentliche Gewerbesteuer.“ Die Kritik vom Oberverwaltungsgericht, die Sicherheit der Bürger sei im Bebauungsplan nicht hinreichend beachtet worden, nennt er „den größten Schlag ins Gesicht“. Ein Kohlekraftwerk könne nie so sauber sein wie ein Wasserkraftwerk, „aber für eine gewisse Zeit brauchen wir noch Kohlekraftwerke“. Er wolle nicht abstreiten, „dass sicher einiges nicht richtig gemacht wurde“ beim Bebauungsplan, aber die Stadtverwaltung werde alle monierten Punkte abarbeiten. „Und irgendwann“, meint er und lacht, „werden wir wieder vor Gericht stehen.“ „Im Moment ist alles offen“, sagt Marieluise Greiwing. „Man muss es auf sich zukommen lassen“, sagt ihr Mann. Die beiden haben viel gelernt in den vergangenen Jahren und sind selbstbewusster geworden. Kein Wunder: Ganz allein haben sie einen großen Konzern und den Staat in die Schranken gewiesen. Vielleicht ist die Macht in Zukunft ein bisschen weniger arrogant.