Auf den Zufahrtsstraßen herrschte das Chaos, einige parkten ihre Autos einfach auf der Autobahn und drinnen drängelten sich insgesamt 30 000 Menschen zwischen Billy und Ivar, nachdem ein Staatsminister seine Begrüßungsrede beendet hatte – so sah der Eröffnungstag der ersten türkischen Ikea-Filiale am 5. Mai 2005 aus, auf der asiatischen Seite Istanbuls im Stadtteil Ümraniye. Der Ansturm der Käufer war so gewaltig, dass vor den Kassen Erfrischungsgetränke und Snacks angeboten wurden, um den stundenlang Wartenden die Zeit zu vertreiben. Diese Nachfrage hatte selbst Ikea überrascht, aber der Konzern reagierte schnell: Nach dem Erfolg in Istanbul öffnete im April 2006 der zweite Ikea-Markt der Türkei. Dabei waren die Voraussetzungen für Ikea in der Türkei ungünstig. Die klassische Ikea-Klientel – Studenten, junge Paare und Familien – war in der Türkei in der Vergangenheit nur schwer für den Möbelkauf zu erreichen. Vor der Hochzeit zusammenzuziehen ist für die meisten moralisch undenkbar. Ist die Hochzeit einmal vereinbart, gehört es zu den Aufgaben der Eltern, sich um die Aussteuer und damit den gesamten Hausstand des Brautpaares zu kümmern. Die jungen Leute gehen zwar auf Möbelsuche – aber nur zusammen mit Eltern und Schwiegereltern. Wer bezahlt, sucht aus – da haben die Kinder oft nur begrenztes Mitspracherecht. Anders als in Deutschland, wo sich in der ersten gemeinsamen Wohnung oft zwei WG-Hausstände zusammenfinden, besitzen junge Türken beim Auszug aus der elterlichen Wohnung kaum etwas außer
ihren Kinderzimmermöbeln und ein paar Büchern. Die neue Wohnung des Brautpaars muss jedoch perfekt sein, wenn der Hochzeitstermin naht, denn schon Tage vor dem großen Fest kommen Verwandte und Freunde, um das neue Heim zu begutachten. Sie testen die Qualität der Sitzmöbel und prüfen in den Schränken, ob genügend Gläser oder Bettwäsche vorhanden sind. Bei solchen Wohnungsbesichtigungen können Eltern und Schwiegereltern zeigen, wie großzügig, geschmackssicher und überlegt sie bei der Aussteuer ihrer Kinder vorgegangen sind. Seinen Eltern zu widersprechen oder Geschenke zu kritisieren gehört sich natürlich nicht. Besitzt das junge Paar am Ende neben dem Wohnzimmer im zeitlosen altenglischen Schnörkelstil – inklusive Goldlamee an Dekokissen und Tischdeckchen – wenigstens ein modernes Sofa im Gästezimmer, dann ist
das meist das Ergebnis diplomatischen Geschicks. Dass Eltern oder Schwiegereltern die Aussteuer bei Ikea aussuchen, ist natürlich undenkbar, schließlich haben sie ihre eigenen Möbel auch nicht in einem schwedischen Einrichtungshaus gekauft. Auch Studenten, in Europa zuverlässige Ikea-Kunden, mieten sich in der Türkei zumeist keine eigenen Wohnungen oder gründen Wohngemeinschaften, sondern kommen im Studienort oft bei Verwandten unter. Allein zu wohnen, ohne Familienanschluss und damit ohne soziales Netz und Hilfe, empfinden viele als Notlösung. Dementsprechend sind auch nur ein Prozent aller Haushalte in der Türkei Singlehaushalte – im Vergleich zu 20 Prozent in Deutschland. Doch das beachtliche Wirtschaftswachstum der vergangenen fünf Jahre von durchschnittlich sieben Prozent beginnt die türkische Gesellschaft zu verändern. Besonders im industriellen und westlich orientierten Westteil der Türkei sowie den Großstädten des Landes hat sich in den letzten Jahren eine neue junge, kaufkräftige Mittel- und Oberschicht gebildet; die türkische Wirtschaftskraft pro Kopf liegt mittlerweile höher als in Bulgarien und Rumänien. Besonders „in den Großstädten gibt es dadurch immer mehr junge Leute, die selbstständig und von der Familie getrennt leben und ihren Lebensunterhalt verdienen“, sagt Professor Faruk Sen vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Ihr Lebenswandel und Kaufgeschmack unterscheide sich kaum noch von Vertretern ihrer Generation in anderen europäischen Metropolen. Während ihre Eltern immer noch gern beim kleinen Laden um die Ecke einkaufen, gehen sie inzwischen lieber in Einkaufszentren und große Märkte. Neben internationalen Nobelmarken ziehen
daher zunehmend auch Handelsketten mit mittlerem Preisniveau in die Einkaufszentren ein, um sich den wachsenden Absatzmarkt zu erschließen – vor Ikea haben zum Beispiel schon Carrefour, Tesco und Metro-Märkte in der Türkei eröffnet. Das „Ikea-Konzept“, sagt Gülden Sincer,Marketing-Managerin von Ikea in Istanbul, „soll in jedem Land der Welt identisch sein”, daher bekommen Ikea-Produkte in Istanbul oder Izmir keine türkischen
Namen. Tatsächlich scheint es auch so zu gehen: Die Hotdogs und Köttbullar aus Putenfleisch werden gleich neben Ayran und den zahlreichen türkischen Vorspeisen angeboten. Und sogar der Weihnachtsschmuck kommt gut an: Die Türken kaufen ihn zur Dekoration von yilbasi, dem Neujahrsfest.