Hayder ist kurz vor dem Ertrinken. Das Schlepperboot, von dem er sprang, ist längst weg. Es ist Nacht. Es ist bitterkalt. Er treibt auf dem offenen Ozean – und kann nicht schwimmen. „Ich habe mit meinem Geld meinen Tod gekauft“, denkt Hayder, da taucht das grellgelbe Scheinwerferlicht eines Rettungshelikopters auf – seine Flucht ist hier noch nicht zu Ende.
Seit etwa einem Jahr sind Fluchtbilder überall in den Medien und sozialen Netzwerken zu sehen: Menschen, die vor Zäunen ausharren. Und Menschen, die in Schlauchbooten stranden. So schrecklich diese Bilder sind und so dringend sie gezeigt werden müssen, auf Dauer bewirkt die ständige Wiederholung doch eines: ein Abstumpfen – aus Überforderung. Die amerikanische Autorin Susan Sontag beschrieb diesen Vorgang 1977 sehr treffend in ihrem Essayband „Über Fotografie“.
Immer öfter werden Comic-Reportagen eingesetzt, wenn klassische Medien in der Darstellung an ihre Grenzen stoßen.
Hier beginnt die Aufgabe der Kunst. Und damit auch des Comics. Immer öfter werden Comic-Reportagen eingesetzt, wenn klassische Medien in der Darstellung an ihre Grenzen stoßen. Der Journalist Joe Sacco kultivierte das Format in den 90er- und Nullerjahren mit seinen Graphic Novels über den Gaza- und den Balkan-Konflikt. In Deutschland spielt die mutige Comic-Collage „Im Land der Frühaufsteher“ von Paula Bulling über die Flüchtlingspolitik in Sachsen-Anhalt.
Nun widmet sich die seit 2006 existierende Comicwerkstatt der Uni Augsburg dem Genre. In den acht kurzen Comics der Reportage „Geschichten aus dem Grandhotel“ werden Flucht und Asyl in Panels, Sprech- und Gedankenblasen neu erzählt.
Am Anfang gab es Hemmungen
Im Frühjahr 2015 – bevor der Begriff „Flüchtlingskrise“ überhaupt aufkam – besuchten die Studenten unter der Leitung von Professor Mike Loos das Augsburger Kulturzentrum „Grandhotel Cosmopolis“. Seit 2013 kommen dort Asylbewerber unter, das ehemalige Altersheim ist aber auch Atelier, Café und auch ein Hotel, dessen Zimmer von Künstlern gestaltet wurden. „Hier bot sich direkt ein Raum, um mit Flüchtlingen Kontakt aufzunehmen, was damals noch gar nicht so leicht war“, erklärt Loos.
„Ich hatte erst Hemmungen“, berichtet Wolfgang Speer, Jahrgang 1990 und einer der Illustrationsstudenten. Die hätten sich aber schnell aufgelöst, als er seinen Protagonisten Hayder im Grandhotel traf. Auf Französisch erzählte der Flüchtling, der sich lieber Vagabund nennt, seine Geschichte von der Helikopterrettung auf dem offenen Meer. Das Bild einer zittrigen Hand, die gerade noch aus der mattgrauen See ragt – so minimalistisch und exakt fängt Speer das Gefühl kurz vor dem Ertrinken im Comic „Hayder“ ein.
Wie unterscheidet sich die Comic-Reportage nun von den klassischen Medien? Tagesaktualität etwa spielt kaum eine Rolle, die Comics leben vielmehr von ihrer Langsamkeit. Zahlen, Fakten und journalistische Authentizität sind wichtig, im Vordergrund steht jedoch der subjektive Blick. „Weil wir Zeit für unsere Recherche hatten und das Flüchtlingsthema erst im Laufe unseres Projekts medial hochkochte, haben die Comics eine sehr unabhängige, vielfältige und persönliche Sprache“, erklärt der Student Dennis Ego.
Zwei Damenbärte erklären die Flüchtlingspolitik
Das stimmt. Nach dem offenen Meer führen die Geschichten an Orte, an die wohl kaum eine Kamera gelangt – erzählt in der dem Genre Comic eigenen Bildsprache: In „Pouya“ beschreibt Samuel Boeck den Entschluss einer jungen Afghanin zur Selbstverbrennung in drei eindringlichen Panels. In „Hüter der Heimat“ drückt Dennis Ego seinem Protagonisten den Bleistift in die Hand und lässt ihn in wenigen groben Linien den syrischen Bürgerkrieg zeichnen.
Und in „Wie alles begann“ genügen Julian Wienand vier dicke Damenbart-Striche, um diesen Dialog zweier Frauen auf der Augsburger Straße zu karikieren: „Gertrud! Die wollen da tatsächlich ein Asylantenheim unterbringen!“, sagt die eine. „Ach Gottchen!“, ruft die andere.
So ermöglicht die Comic-Reportage einen anderen Zugang zu Flucht und Asyl. Einen, bei dem sich Ruhe, Humor, Leichtigkeit, Glück, Angst und Nähe ständig abwechseln. Vom Abstumpfen deshalb: keine Spur.
Mike Loos (Hg.): „Geschichten aus dem Grandhotel. Comic-Reportagen von Augsburger Design- Studierenden“. Augsburg 2016, Wißner-Verlag, 96 Seiten, 12,80 Euro
Christine Stöckel ist freie Journalistin in Berlin. Am liebsten schreibt sie über Filme, TV und Comics.