Nach Dharavi kommt man nur langsam. Der vermutlich größte Slum Asiens liegt mitten in Mumbai, das bis 1995 Bombay hieß. Mitten im täglichen Verkehrschaos, eingepfercht von zwei wichtigen Eisenbahnlinien, der Western und der Central Railway. Auf dem Weg dorthin passiert man stattliche Gebäude im Kolonialstil, Palmen und weitläufige Rasenflächen, auf denen Jugendliche Kricket spielen. Vor gut hundert Jahren fischten hier Fischer in einem großen Mangrovensumpf. Heute leben zwischen 600000 und eine Million Menschen in Dharavi; genauere Zahlen hat niemand.
Je näher Dharavi im dichten Stadtverkehr rückt, umso düsterer wird das Bild. Grauer und grauer werden die Häuser, bis sie nur noch wie ein Patchwork aus Wellblechplatten erscheinen, das allein Glaube und Hoffnung zusammenhalten. Auf dem Bürgersteig einer Brücke hat sich eine Großfamilie eingerichtet. Dicht nebeneinander sind Planen gespannt, unter denen Menschen schlafen. Frauen waschen in Plastikeimern Wäsche. In der Müllhalde neben den provisorischen Unterkünften spielen nackte Kinder. Die Pfade zwischen den Behausungen sind sogar für die kleinen Autorikschas zu schmal.
Dharavi ist die Hölle. Was nicht bedeutet, dass man sich hier nicht häuslich einrichten kann. Raj Khandari, 28, steht vor einem Stapel gegerbter Schafshäute und sortiert sie nach Qualität. „Ich bin sehr glücklich mit meinem Geschäft“, sagt der junge Mann mit dem offenen Gesicht und den leuchtenden Augen. Mit seinem Vater betreibt er eine Lederverarbeitungswerkstatt, die der Familie schon in dritter Generation gehört. Heiß und dunkel ist es in dem Raum, die Maschinen sehen aus, als stammten sie aus dem Industriemuseum.
Raj ist ein Kastenloser, ein Unberührbarer – wie jeder, der in Indien ewas tut, das die Hindus als „unrein“ betrachteten: Wäsche waschen, Toiletten putzen, Tiere schlachten und eben auch Leder verarbeiten. Laut Verfassung ist das Kastensystem abgeschafft, dennoch stehen die Unberührbaren oft noch am Rand der Gesell-schaft und finden keine anderen Jobs.
Raj, der verheiratet ist und eine kleine Tochter hat, geht es vergleichsweise gut. Zwar lebt er im Slum, direkt über der Werkstatt. Aber die Familie hat ein regelmäßiges Einkommen. Sie stellen mit zwanzig Mitarbeitern Billigko-pien von Markenprodukten wie Handtaschen und Lederjacken her, die sie in ganz Mumbai verkaufen. Raj hat einen Fernseher, ein Handy – solche Konsumgüter unterscheiden ihn nicht von der Mumbaier Mittelschicht.
Doch sein bescheidener Wohlstand ist bedroht, denn die Stadtregierung möchte Dharavi modernisieren. Ursprünglich lag der Slum am Rand Mumbais, aber die schnell wachsende Stadt hat ihn eingeschlossen. Jetzt erstreckt er sich über knapp zwei Quadratkilometer direkt neben dem Finanzdistrikt Bandra Kurla – in bester Innenstadtlage. Das weckt Begehrlichkeiten. Land ist teuer in Indiens Finanzmetropole, und die Mieten für gute Wohnungen und Büros gehören zu den höchsten der Welt. Es gibt noch 2500 andere Slums in Mumbai, viele davon kaum mehr als Müllhalden am Rande der Stadt, in denen es den Menschen meist viel schlechter geht. Insgesamt leben rund 55 Prozent der 18 Millionen Einwohner Mumbais in Slums. „Wir haben nichts gegen Entwicklung“, sagt Raj Khandari, „aber nicht so, wie die Regierung sich das vorstellt. Man hätte zuvor mit uns sprechen müssen.“
Werden die Pläne realisiert, wird Dharavi, das bisher aus ein- bis zweigeschossigen Gebäuden besteht, komplett abgerissen. Die bescheidenen Hütten aus Stein wurden teils schon Anfang des letzten Jahrhunderts gebaut und nie modernisiert. Neuere Wellblechkonstruktionen kamen hinzu, die Probleme blieben. Fließendes Wasser gibt’s in den Häusern nicht und nur primitive Gemeinschaftstoiletten.
Siebenstöckige Hochhäuser sollen die Hütten ersetzen, in ihnen soll jede Slumfamilie umsonst eine Wohnung von etwa 20 Quadratmeter Größe zugewiesen bekommen. Was dann an freien Flächen übrig bleibt, kann die private Entwicklungsgesellschaft gewinnbringend verkaufen oder vermieten. Schon heute kostet eine Hütte von 20 Quadratmetern in Dharavi umgerechnet 22000 Euro. Experten rechnen damit, dass der Preis für eine Wohnung auf 27000 Euro steigen wird.
Der Gegensatz zwischen Dharavi und Bandra Kurla könnte nicht größer sein. Während in dem Finanzviertel junge Banker in dunklen Anzügen über breite, geteerte Straßen in glitzernde Bürotürme eilen, stehen Parviz Develiya, 18, und sein Freund Gohul Amit, 17, unter einer blauen Plastikplane, auf die der Monsunregen einprasselt. In wenigen Minuten hat der Regen die düsteren, unbefestigten Gassen des Slums in Schlammlöcher verwandelt. Kleine Kinder kommen nackt aus den Häusern gelaufen. Sie nutzen die Gelegenheit, im dichten Regen zu duschen, ein Bad haben sie zu Hause nicht.
Parviz und Gohul halten nichts von den Modernisierungsplänen. „Da wollen nur einige Leute Geld machen, und unsere Jobs sind weg“, sagt Parviz. Aus der gegenüberliegenden Hütte weht der Duft von frittiertem Gebäck herüber. Zwei Männer kommen herausgelaufen, um die draußen aufgestapelten Pakete voller Knabbereien vor dem Regen zu retten. In dem düsteren kleinen Raum, dessen Wände vom offenen Feuer schwarz geworden sind, arbeiten fünf junge Männer. Einer steht an einem riesigen Wok und lässt Teig in das heiße Öl gleiten. Ein Großteil des Salzgebäcks, das die Händler in ganz Mumbai verkaufen, wird in Dharavi hergestellt.
Parviz würde am liebsten gar nicht in Dharavi arbeiten, sondern Ingenieurswissenschaften studieren. Aber so recht glaubt er nicht daran, dass das klappt. „So ein Studium ist teuer und es ist schwer, einen Platz zu finden“, sagt er. Wahrscheinlich wird er eher als Töpfer arbeiten, so wie sein Vater.
Die rund 2000 Töpfer, die von Dharavi aus ganz Mumbai und den umliegenden Bundesstaat Maharashtra mit ihren Waren beliefern, gehören zu den schärfsten Gegnern der Modernisierungspläne. „Wenn das durchkommt, können wir uns nur noch den Strick nehmen“, schimpft Arvind Prajapatti Wadel. Doch der 38-Jährige macht nicht den Eindruck, als würde er es so weit kommen lassen. Ein Karikaturist hat die Stimmung in Dharavis Töpferviertel Kumbharwala treffend eingefangen: Seine Zeichnung zeigt, wie wütende Töpfer den leitenden Architekten der Stadt, Mukesh Mehta, mit tönernen Wurfgeschossen aus ihrem Viertel treiben.
„Das hier ist unser Leben“, sagt Arvind Wadel und deutet auf den Brennofen, aus dem dichter, beißender Rauch steigt. Die primitiven Öfen werden mit Abfällen aller Art befeuert – eine Praxis, die die Regierung aus Gesundheitsgründen stoppen will. Bharti Parmar hat gerade wieder ein paar Töpfe fertig gemacht. Die 21-Jährige stellt sie auf eine Mauer im Hof zum Trocknen. Das Töpfern ist ein Familiengeschäft, in dem jeder anpackt. „Ich habe von Kind auf gelernt, Töpfe zu machen“, sagt Bharti. „Ich kann mir gar nichts anderes vorstellen.“ Die Frauen sind dafür zuständig, den Ton von Steinen und anderen Verunreinigungen zu befreien und zu bearbeiten. Für Bharti steht fest, dass sie später einen Töpfer aus der Nachbarschaft heiraten wird. Andere Zukunftspläne hat sie nicht.
Die Töpfer sind eine starke Lobbygruppe, weil ihnen im Gegensatz zu vielen Slumbewohnern, die erst in den letzten Jahren illegal nach Dharavi gezogen sind, das Land gehört, auf dem sie leben und arbeiten. „Mein Großvater ist in den Zwanzigerjahren aus Gujarat hierhergekommen. Unsere Familie hat sich alles eigenhändig aufgebaut. Das kann man uns nicht einfach wegnehmen“, em-pört sich Arvind Wadel. Trotz der harten Arbeit von drei Generationen hat seine zwölfköpfige Familie es jedoch nicht geschafft, etwas Geld zurückzulegen. „Wir verdienen gerade mal so viel, dass wir alle satt werden“, sagt Wadel.
Wenn sie ihre Werkstatt verlieren, stehen sie vor dem Nichts. „Schauen Sie sich das an“, sagt Wadel und zeigt auf den stinkenden offenen Abwasserkanal direkt vor dem Haus. „Die Regierung schafft es nicht einmal, so etwas zu beheben. Unsere Kinder haben ständig Durchfall und andere Krankheiten. Jetzt behaupten sie, es werde uns allen besser gehen, wenn die Häuser abgerissen werden. Ich glaube kein Wort.“
Der Mann, der so viele verärgert, sitzt in einem Büro mit Blick aufs Meer in Mumbais Nobelviertel Bandra. Mukesh Mehta, Architekt und offizieller Regierungsberater, ist genervt, wenn er auf den Widerstand gegen seine Pläne angesprochen wird. „Es gibt einige Nicht-Regierungsorganisationen, die viel Geld im Ausland damit machen, dass sie die Armut vermarkten und diese Leute aufhetzen“, schimpft er. „Doch 80 Prozent der Bewohner von Dharavi befürworten meinen Plan.“ In einer Animation zeigt er, wie Dharavi nach der Sanierung aussehen soll: breite Straßen, Hochhäuser, Schulen, Krankenhäuser, Parkanlagen.
In der Tat unterstützen viele Bewohner Dharavis die Modernisierungspläne – vor allem die, deren Hütte kleiner als 20 Quadratmeter ist, sie erwarten sich eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Vaishali Ashok, 32, etwa wohnt seit zwei Monaten in einem der bereits fertigen Hochhäuser. „Ich bin glücklich hier, die Wohnung ist wirklich besser als vorher“, sagt die Hausfrau. Sie hat nun ein gekacheltes Bad und eine gekachelte Küche. Im Wohnzimmer stehen ein Fernseher und sogar ein Computer.
Allerdings ist Vaishali tagsüber allein. Erst abends, wenn alle Familienmitglieder von der Arbeit zurückkommen, stellt sich heraus, dass Dharavi auch nach der Sanierung kein „Weltklasse-Vorort“ sein wird – wie Mukesh Mehta es gern formuliert. Denn wenn zwölf Menschen auf 20 Quadratmetern schlafen müssen, ist die Wohnung voll. „Die Familie meines Schwagers schläft auf dem Boden in der Küche“, erklärt Vaishali. Dort stehen aber schon zehn volle Wassereimer, die die Familie braucht, um sich morgens zu waschen. Fließendes Wasser oder gar eine Dusche gibt es auch in der neuen Wohnung nicht. „Wir unterstützen den Entwicklungsplan, weil er besser ist als alles, was die Regierung vorher vorgelegt hatte“, meint Prashad Anthony von der christlichen NGO „Proud“, die seit 1979 in dem Slum arbeitet. Allerdings fordert auch er, dass Gewerbetreibende wie die Töpfer und Lederverarbeiter separat behandelt werden. „Die wirtschaftlichen Aktivitäten dürfen auf keinen Fall gestoppt werden“, sagt Anthony. Laut Mukesh Mehta ist das auch gar nicht vorgesehen. Er zeigt seine Pläne, in denen Industriegebiete ausgewiesen sind, in die die Gewerbetreibenden umziehen sollen. Sogar eine Fortbildungs-akademie für die Handwerker ist eingeplant. Nach Mehtas Schätzungen wird Dharavis lokale Wirtschaft nach der Modernisierung 2,14 Milliarden Euro im Jahr umsetzen gegenüber bisher 300 bis 400 Millionen. Dennoch sitzt das Misstrauen der Slumbewohner gegen die Regierung tief.
„Ich habe mit Mukesh Mehta gesprochen“, sagt Raj Khandari. „Er hat vorgeschlagen, dass wir unser Land verkaufen und wegziehen. Aber das ist doch absurd, wo sollen wir denn sonst unsere Lederwerkstatt aufbauen? Wir können uns doch ein anderes Grundstück in Mumbai gar nicht leisten.“ Auch sein Vater sagt: „Warum können wir unser Land nicht selbst modernisieren?“
Die Antwort ist offensichtlich. Es geht um zu viel Geld in Dharavi. Mehr als hundert private Entwicklungsgesellschaften haben sich laut Mukesh Mehta auf die Ausschreibung zur Sanierung des Slums beworben. „Wir brauchen enorme Summen, das können wir nicht aus der Stadtkasse bezahlen“, sagt Iqbal Chahal, Geschäftsführer der Slum Rehabilitation Authority. Insgesamt zwei Milliarden Euro soll das Projekt kosten. Er sieht in dem Entwicklungsplan eine „Win-win-Situation für alle“. Die Entwickler verdienen Geld, die Stadt muss nicht zahlen, die Slumbewohner erhalten bessere Wohnungen.
Sozialaktivisten wie Simpreet Singh von der National Alliance of People’s Movements halten dennoch das Misstrauen der Slumbewohner für berechtigt. „Die indische Regierung hat in den vergangenen Jahren permanent die Armen enteignet, um die Reichen profitieren zu lassen“, sagt er. Er weist darauf hin, dass nach of-fiziellen Regierungsangaben 57000 Familien in die Sanierungsmaßnahmen einbezogen werden sollen. Dabei geht man davon aus, dass eine durchschnittliche Familie fünf Mitglieder hat. Bei 600000 Einwohnern würde damit gerade mal die Hälfte der Bewohner von Dharavi eine neue Wohnung erhalten. „Der Rest wird obdachlos“, sagt Singh. Oder wohnt mit zehn und mehr Personen in den kleinen Wohnungen wie Vaishali Ashok und ihre Familie. Welche Auswirkungen dies auf die geplante moderne Infrastruktur wie Strom- und Wasserversorgung sowie Plätze in Schulen und Krankenhäusern hat, vermag derzeit niemand zu sagen.
Und klar ist auch: Eine Lederwerkstatt mit zwanzig Mitarbeitern und Maschinen wie die Raj Khandaris und seines Vaters kann man in einem der neuen Hochhäuser auf keinen Fall betreiben. „Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll“, sagt Khandari. „Wenn ich an die Zukunft denke, blicke ich in ein schwarzes Loch.“