Hoch oberhalb des tiefblauen Genfer Sees thront das Kurhotel Royal, unten im Ortszentrum plätschert leise ein Brunnen. Evian-les-Bains ist umhüllt von einer Zauberberg-Atmosphäre. Und genau wie in dem Roman von Thomas Mann ereignete sich auch in diesem Kurort Wunderbares: Hier fand der Marquis von Lessert im Jahre 1789 Linderung von seinem Harngrieß. Glaubt man der Legende, trank der Edelmann täglich aus ebenjener Quelle, die auch heute noch leise vor sich hinsprudelt. Und siehe da: Sein Leiden verschwand. Der Erfolg sprach sich herum, die Ärzte der Region begannen das Wunderwasser zu verschreiben. Der Besitzer der Quelle – ein Herr namens Cachat – witterte seine Chance. Er schloss die Quelle ab und begann, das Wasser in Flaschen abzufüllen. Es war der Beginn einer Erfolgsgeschichte.
Dank des Wasserverkaufs ist die Region um Evian-les-Bains heute eine der reichsten in Frankreich. Das Geschäft boomt, Evian ist inzwischen weltweit das meistgetrunkene stille Mineralwasser. Rund 1,7 Milliarden Liter Evian-Wasser verkauft das Unternehmen Danone jedes Jahr, in 120 Ländern der Welt. Hauptabsatzland ist Frankreich, das Heimatland von Danone. Doch auch der Export ist lukrativ, vor allem in Länder wie Australien oder Japan. Beliebt sind dort vor allem die kleinsten Flaschen, die gerade einmal 0,33 Liter fassen – kleine Statussymbole.
In der Gegend um Evian-les-Bains arbeiten rund 2000 Menschen am Erfolg des Flaschenwassers: in den beiden Abfüllanlagen, in den Labors, die täglich mehrmals die Wasserqualität kontrollieren, oder in den Marketing-büros. Ein Teil der Angestellten kümmert sich um die Touristen, die der Mythos nach Evian-les-Bains lockt, die Heilwasser aus dem Brunnen trinken, in den Thermalbädern in Evian-Wasser baden und einfach entspannen wollen: Das Hotel Royal, der Golfplatz, das Kasino und die Thermenanlage gehören ebenfalls zu Danone.
Aus gutem Grund: „Als die Marke Evian noch nicht so bekannt war, nutzte das Unter-nehmen das Image und die Geschichte unseres Ortes, um seinem Wasser Bekanntheit zu geben“, erklärt Francis Jungo, der Leiter des Touristenbüros von Evian-les-Bains. Mit einem Achselzucken fügt er hinzu: „Heute braucht Danone den Tourismus nicht mehr, das Geschäft mit dem Wasser funktioniert auch so.“
Die Geld-Quelle liegt in Amphion, einem kleinen Ort, etwa fünf Kilometer von Evian-les-Bains entfernt. Hierher fließt das Quellwasser aus den Alpen, hier wird es in Flaschen abgefüllt. 57 Hektar ist das Fabrikgelände groß, das entspricht etwa sechzig Fußballfeldern und macht die Abfüllanlage zur weltweit größten für Wasser. Es ist ein beinahe vollständig automatisierter Betrieb. Arbeiter stehen vereinzelt neben den Maschinen und kontrollieren, wie diese mehr als sechzig Liter Wasser pro Sekunde in die Flaschen pumpen. Jeden Werktag verlassen auf diese Weise rund 150 Zugwaggons die Fabrik, sie transportieren sechs Millionen Evian-Flaschen. Mehr als die Hälfte davon geht ins Ausland – vor allem in die USA, nach Großbritannien, Deutschland, Belgien und Japan.
Eigentlich ist Danone weniger für sein Flaschenwasser bekannt als für Milchprodukte und Backwaren. Seit einigen Jahren jedoch hat das Wasser dem Keks den Rang abgelaufen: Inzwischen macht das Wasser 28 Prozent des Geschäfts von Danone aus. Das entspricht einem Umsatz von rund vier Milliarden Euro. Mit mehr als 55 Prozent ist das Geschäft mit dem Joghurt zwar immer noch der erfolgreichste Sektor des Unternehmens. Aber: Weil der Verkauf von Milchprodukten stag-niert, während Wasser als das Getränk mit den stärksten Zuwachsraten gilt, verschieben sich nach und nach die Prioritäten. Danone investiert – ähnlich wie andere Flaschenwasser-hersteller – Millionen von Euro, um neue Märkte zu erobern. Weltweit besitzt der Lebensmittelriese inzwischen mehr als 100 Abfüllanlagen in 13 verschiedenen Ländern der Welt. Insgesamt verkaufte Danone 2005 weltweit 18,5 Milliarden Liter Flaschenwasser. Weit mehr als die Hälfte davon gehen in Asien über die Ladentheke.
Evian ist neben Volvic zwar immer noch die bekannteste Marke und gleichzeitig das Aushängeschild von Danone. Die Tatsache, dass das französische Unternehmen heute neben dem Schweizer Konkurrenten Nestlé der erfolgreichste Flaschenwasserproduzent weltweit ist, verdankt das Unternehmen allerdings einer anderen Marke: Aqua in Indonesien. 2001 erwarb Danone die Mehrheitsanteile an dem indonesischen Tafelwasser. Nach dem Einstieg des französischen Konzerns füllten die Anlagen in Indonesien bald doppelt so viel Wasser ab wie zuvor. Inzwischen ist Aqua das am meisten getrunkene Wasser weltweit: Jedes Jahr verkauft das Unternehmen drei Milliarden Liter. Der Erfolg von Aqua ist mit dafür ausschlaggebend, dass das Geschäft mit dem Flaschenwasser in Asien innerhalb eines Jahres um 25 Prozent gewachsen ist.
Die Zahlen stehen für einen Boom im Flaschenwassermarkt, der gerade erst begonnen hat. Allein zwischen 1997 und 2005 hat sich der weltweite Konsum mehr als verdoppelt. Und während etwa jeder Deutsche 1970 gerade einmal zwölf Liter jährlich trank, sind es heute 127 Liter. Mit einem Anteil von mehr als sechs Prozent am weltweiten Wasserverbrauch landet Deutschland damit auf Platz sechs unter den Top Ten der Flaschenwassertrinker weltweit – gleich nach den bevölkerungsreicheren Ländern USA, Mexiko, China und Brasilien, nach Italien und noch vor Frankreich und Indonesien. Besonders in Asien nimmt der Flaschenwasserkonsum rasant zu: „In China hat sich der Verkauf innerhalb von fünf Jahren verdoppelt, in Indien sogar verdreifacht“, erklärt Frank Kürschner-Pelkmann, der Entwicklungshilfe-organisationen wie „Brot für die Welt“ berät. Für den Wasserexperten gibt es einen einfachen Grund für den wachsenden Markt in Asien: „Während in Europa der Absatz der verkauften Flaschen meist nur noch vom Hitzegrad des Sommers abhängt, ist in Ländern wie Indonesien oder Indien der Markt längst noch nicht gedeckt.“ Wasser zu kaufen sei dort kein Usus, viele Bewohner können sich die teuren Flaschen gar nicht leisten. Doch eigentlich haben sie keine andere Wahl: In vielen Städten verschlechtert sich die Wasserqualität aus den Leitungen, auf dem Land fehlt die Infrastruktur für ein funktionierendes Leitungssystem oft sogar ganz.
Weil Unternehmen wie Danone, Nestlé, Coca-Cola oder PepsiCo einen Markt mit enormer Gewinnspanne im Blick haben, investieren sie. Sie kaufen lokale Unternehmen auf und bemühen sich um die Rechte an natürlichen Wasserspeichern. China erscheint dabei besonders vielversprechend: Der Pro-Kopf-Verbrauch von Flaschenwasser liegt bei gerade einmal zehn Litern im Jahr. Zudem locken eine Milliarde potenzieller Kunden. Danone ist hier bereits präsent: Mit Wahaha vertreibt der Lebensmittelriese die erfolgreichste Marke des Landes.
Der Erfolgszug des Flaschenwassers begeistert allerdings nicht jeden. Jens Loewe etwa hält es für unmoralisch, Menschen aus ärmeren Bevölkerungsschichten zum Flaschenwasser-kauf zu animieren. Über das Thema, das ihn seit vielen Jahren nicht mehr loslässt, hat Loe-we gerade ein Buch geschrieben. Es heißt Das Wassersyndikat und handelt von der „Verknappung und Kommerzialisierung einer lebensnotwendigen Ressource“ - in Europa, aber vor allem auch in Ländern, in denen es traditionell an Wasser mangelt. China etwa oder Indien. Hinter dem neuen Trend, gezielt in diesen Ländern Flaschenwasser zu vermarkten, sieht der Wasseraktivist bewusste Propaganda: „Mit ihrem Wasser versprechen Unternehmen wie Nestlé und Danone Gesundheit und langes Leben – aber in den meisten Fällen ist Leitungswasser genauso gut, zumal wenn die Leute es abkochen.“
Wie die Einführung eines neuen Flaschenwassers in einem Land der Dritten Welt funktioniert, hat Nestlé vor einigen Jahren eindrucksvoll demonstriert. Die Marke Pure Life sollte Menschen ansprechen, die mit ihrem kleinen Einkommen haushalten müssen, um zu überleben. Um bei ihnen Markenbewusstsein zu wecken, soll Nestlé innerhalb von drei Jahren rund 100 Millionen Euro in das Marketing für das Tafelwasser investiert haben. Neben der konventionellen Werbung veranstaltete der Konzern Gesundheitsseminare, in denen etwa Krankenschwestern über die negativen Folgen des Leitungswasserkonsums aufgeklärt wurden. In Pakistan hat Nestlé auf diese Weise binnen eines halben Jahres 50 Prozent des Marktes erobert. Heute ist Pure Life das zweiterfolgreichste Flaschenwasser der Welt – nach Aqua von Danone.
Verglichen mit Coca-Cola oder auch Nestlé stand Danone bislang verhältnismäßig wenig in der Kritik. Für den Wasserexperten Loewe gibt es allerdings nur kleine Unterschied zwischen den Großen im Wassergeschäft: „Die Verfahrensweise ist ähnlich: Ein Konzern kauft das Grundstück, bohrt nach Wasser, verkauft das Wasser oft zu einem tausendmal höheren Preis.“ Für Loewe ist das eindeutig Raubbau.
Dass sich dabei Staat und Privatwirtschaft gelegentlich die Karten zuspielen, hält Loewe nicht nur für denkbar, sondern sogar für wahrscheinlich: „Es wäre recht naiv, nicht davon auszugehen“, sagt er. Denn: „Die Flaschenwasserkonzerne haben natürlich ein gesteigertes Interesse daran, dass die öffentlichen Wasserleitungen heruntergekommen sind. Und der jeweilige Staat ist froh, wenn er eine Ausrede hat – nämlich das Flaschenwasser –, um so wenig wie möglich sanieren zu müssen.“
Flaschenwasser ist eine Industrie mit einem weltweiten Umsatz von insgesamt 63 Milliarden Euro. Die Gründe für den Flaschenwasserboom liegen auf der Hand: Zum einen erweckt die Werbeindustrie den Eindruck, abgepacktes Wasser verheiße Ge-sundheit, Glück und langes Leben. Zum anderen aber sind die Flaschen praktisch in einer Welt, die immer mobiler wird.
Auch im Supermarkt von Evian-les-Bains verkauft sich das Flaschenwasser gut, allen voran natürlich das Wasser der Marke Evian. Ein Angestellter, der die rosa-blauen Evian-Flaschen in die Regalwand räumt, macht allerdings einen Unterschied: „Das Mineralwasser kaufen bei uns vor allem die Touristen“, sagt er. Denn wer in Evian-les-Bains wohnt, habe es gar nicht nötig, die Flaschen für rund 50 Cent pro Liter zu kaufen: „Wir sitzen schließlich an der Quelle.“
Und tatsächlich bildet sich am Nachmittag an dem kleinen Brunnen im Ortszentrum von Evian-les-Bains eine Schlange. Einige Bewohner sind gleich mit einem ganzen Kasten leerer „Evian“-Flaschen gekommen. In ihnen transportieren sie das Wasser literweise nach Hause.