Es ist zwölf Uhr mittags im Restaurant „Haven“ in Siem Reap, Kambodscha: Die meisten Tische im Garten sind besetzt, auch auf den Terrassen-Sofas wird bald kein Platz mehr frei sein. Durch die offene Küche sind junge Menschen in Arbeitskleidung erkennbar. Sie schauen dem Koch über die Schulter, waschen Gemüse und schneiden es klein. In der Bar mixt einer ein Apfel-Ananas-Ingwer-Getränk, ein anderer trägt es zu den Gästen.

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Echt anrührend: Zu sehen, wie ehemals chancenlose Jugendliche ihre Zukunft vorbereiten (Foto: Haven)

Echt anrührend: Zu sehen, wie ehemals chancenlose Jugendliche ihre Zukunft vorbereiten

(Foto: Haven)

Aktuell 13 Lehrlinge zwischen 18 und 26 Jahren werden hier ein Jahr lang zum Koch oder zur Servicekraft ausgebildet. Sie tragen schwarze T-Shirts; auf der Vorderseite steht „Haven“ (engl. „Zufluchtsort“), auf der Rückseite „Family“. Das ist keine Floskel, denn hier haben die jungen Erwachsenen nicht nur ihre Ausbildung begonnen, sie haben mit dem „Haven“, einem Trainingsrestaurant für ehemalige Heimkinder und gefährdete junge Erwachsene aus geschützten Unterkünften, auch eine Ersatzfamilie gefunden. Ihre neuen „Eltern“ sind Schweizer: Sara und Paul Wallimann, schwarze Hornbrillen, kurze Haare, Tattoos auf den Armen.

Das Ehepaar Wallimann erzählt, wie es zu dem Projekt „Haven Training Restaurant“ kam. April 2008: Auf ihrer zweijährigen Weltreise erreichen sie Kambodscha. In einem Waisenhaus in der Nähe von Siem Reap, dem Tor zu den berühmten Tempelanlagen von Angkor Wat, arbeiten die beiden für ein paar Monate als Freiwillige. Damals fragen sich die Wallimanns, was eigentlich mit den Kindern passiert, wenn sie zu alt sind fürs Heim.

Selbstständigkeit ist ihnen als Konzept oft fremd

Eine Berufsausbildung beginnen und auf eigenen Beinen stehen? So einfach ist das in Kambodscha nicht. „Berufsschulen wie bei uns kennt man hier nicht, die Kinder lernen oftmals den Beruf der Eltern von klein auf mit“, sagt Sara. Ein Problem, wenn man keine Eltern hat oder diese nicht für einen da sein können. Also fassen die Schweizer einen Plan: eine Trainingseinrichtung mit angeschlossenem Wohnhaus für die Lehrlinge.

„Wir wollten etwas Selbsttragendes entwickeln, das ohne permanente Spenden auskommt“, sagen die beiden. Ein Ort, an dem die ehemaligen Heimkinder – sowohl Waisen als auch ausgesetzte Kinder – lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, statt Hilfe von außen zu erwarten. Selbstständigkeit ist ihnen als Konzept oft fremd. Es habe sich in den letzten Jahren ein regelrechter Waisenheimtourismus etabliert, der den Kindern mehr schade als nutze, erzählen die Wallimanns. Fakehäuser würden bewusst in schlechten Verhältnissen gelassen, damit Touristen Geld für sie sammeln.

Eigene Kinder haben sie nicht, aber bald viele Auszubildende

Die Wallimanns meinen es ernst und wollen den Lehrlingen eine Zukunft geben. Deshalb wird etwas im Bereich Tourismus ins Auge gefasst, am besten in der Gastronomie. Dafür bringen sie gute Voraussetzungen mit: Paul ist Lebensmittelingenieur, hat als Berater für Lebensmittelhygiene zehn Jahre lang für große Hotels und Restaurants gearbeitet und an einer Hotelfachschule unterrichtet. Sara war in Zürich Marketingleiterin für eine vegetarische Restaurantkette.

2010 kehrt das Paar in die Schweiz zurück, gründet den Verein „Dragonfly“ und sammelt Spenden. Eigene Kinder haben die Wallimanns nicht, aber bald viele Auszubildende, für die sie sich verantwortlich fühlen. Im April 2011 ziehen sie nach Kambodscha, bauen das Restaurant und Unterrichtszimmer und eröffnen gemeinsam mit einer Schweizer Freundin und einem einheimischen Küchenchef bereits im Dezember das „Haven“. Heute führen sie es gemeinsam mit 16 Angestellten.

„Züri Gschnätzlets“ ist dort genauso zu finden wie kambodschanische Fischsuppe

Von Anfang an dabei ist Chao, 24 Jahre, Lehrling aus dem ersten Jahrgang. Heute arbeitet er als Barmann im „Haven“. Die Drinks mixt er mit Routine. Früher als Kind, sagt er, war er ständig in Aufregung. Weil seine Familie zu arm war, um für ihn zu sorgen, kam er mit neun Jahren ins Waisenheim. Bis zu seinem 20. Lebensjahr blieb er dort, dann sah er die Ausschreibung für das „Haven“ und bewarb sich. Er erhielt, wie alle Lehrlinge nach ihm, eine zwölfmonatige Ausbildung, nahm am Englisch- und Computerunterricht teil, lernte viel über Nahrungsmittel und Hygiene.

Während der Ausbildung wohnen die Teilnehmer im Trainee-Haus und erhalten ihren Lehrlingslohn, ein Taschengeld von umgerechnet 20 US-Dollar im Monat, Essen, Kleidung, Schulmaterial sowie medizinische Versorgung. Zum Vergleich: Der Durchschnittslohn eines fair bezahlten Kellners beträgt laut Sara Wallimann rund 80 bis 100 US-Dollar im Monat. Am Ende des Lehrjahres werden die Ausgebildeten mit einem Sparkonto, auf dem rund 1.000 US-Dollar liegen, in ihr neues Leben entlassen. „Bis heute haben wir 25 Lehrlinge ausgebildet und danach sichere und gut bezahlte Arbeitsstellen für sie gefunden“, sagt Sara Wallimann.

Vom guten Geschmack der Unabhängigkeit kann sich im „Haven“ jeder selbst überzeugen. In der Menükarte steht, es werden ausschließlich frische und hochwertige Produkte verarbeitet, wie sauberes Trinkwasser oder Eier von artgerecht gehaltenen Hühnern. „Züri Gschnätzlets“ ist dort genauso zu finden wie kambodschanische Fischsuppe.