Die Erfindung und der Aufstieg des Kinos fallen in eine Zeit massiver Urbanisierung. Schon in einigen der allerersten Filmaufnahmen wird die Stadt selbst abgebildet, der Straßenverkehr von Leeds und Fabrikarbeiter in Lyon gehören dazu. Bis heute ist die Stadt geradezu prädestiniert, ein Film-Ort zu sein, mit ihren Hochhausfluchten und -schluchten, den Lichtern ihrer Nacht und dem Schatten ihrer Gassen und natürlich mit den Menschen, die in ihnen zusammenkommen. Als Sammelbecken für Sonderlinge und verlorene Seelen, Paradiesvögel und Schutzengel vereint sie auf engem Raum das ganze Spektrum der menschlichen Existenz – und den Stoff für immer neue Geschichten. Wir haben ein paar unserer Lieblingsfilme herausgekramt, in denen Städte eine Hauptrolle spielen.
Nachtgestalten unterwegs: „Night on Earth“ (1991)
Das Taxi lebt mit Metropolen in Symbiose. Es kann fast nirgends sonst auf der Welt existieren, prägt das Straßenbild der Städte und ist unverzichtbar für ihre Bewohner. Fünf Taxis schickte Jim Jarmusch in „Night on Earth“ auf die Reise, zeitgleich fahren sie los, zwischen den Sequenzen dreht sich eine Weltzeituhr zurück in die Ausgangsposition: In Los Angeles ist noch Sonnenuntergangsstimmung, in New York schon später Abend, in Paris und Rom dunkle Nacht, die sich in Helsinki dem Ende zuneigt. Skurriles Personal kommt für die Dauer einer Fahrt zusammen: eine Filmagentin, ein Ex-Clown aus der DDR, ein sodomistischer Taxifahrer, ein Priester, eine blinde Frau und schwermütige Finnen. Sie führen hochkomische und todtraurige Dialoge, wie sie nur Jim Jarmusch schreiben kann, und die Kamera blickt immer wieder raus aus dem Fahrzeuginneren auf die Straßen der Städte. Hin und wieder fängt sie auch ein paar Nachtgestalten ein.
Als New York noch gefährlich war: „Die Klapperschlange“ (1981)
Was ist noch finsterer und brutaler als das New York der 70er-Jahre? Die Filme über das New York der 70er-Jahre. „French Connection“, „Hexenkessel“, „Taxi Driver“ – sie alle porträtieren die Stadt als kaputten Moloch, als gefährlichen Ort voller Gauner, Betrüger und korrupter Polizisten. Die ultimative wie groteske Überhöhung dieses filmischen Minigenres ist John Carpenters dystopischer Science-Fiction-Film „Die Klapperschlange“ Die Handlung spielt 1997. Das Verbrechen hat in den 1980er-Jahren dermaßen zugenommen, dass Gefängnisse normaler Größe nicht mehr ausreichen und ganz Manhattan in ein Hochsicherheitsgefängnis verwandelt wird, in dem die Häftlinge sich selbst überlassen sind. Hierhin wird ausgerechnet der US-Präsident entführt, den ein straffällig gewordener Ex-Elite-Soldat befreien soll.
Im sterilen Labyrinth der neuen Arbeitswelt: „Playtime“ (1967)
Supermodern, dieses Paris. Die Häuser aus Glas und Stahl, die Menschen ruhelos und gehetzt. Sie arbeiten in kleinen Boxen, die große Firmen in riesigen Büros aufgestellt haben. Monsieur Giffard etwa, den Monsieur Hulot treffen will. Dumm nur: Das klappt nicht. Immer verpasst einer den anderen im Labyrinth der neuen Arbeitswelt. Damit ist die Handlung von Jacques Tatis 60er-Jahre-Klassiker bereits erzählt. Wichtiger als die Handlung sind die filmischen Mittel: In der Mischung aus Ballett, absurdem Theater und Slapstick-Komödie inszeniert Jacques Tati die Stadt der Moderne als austauschbaren Ort, unpersönlich, steril, gleichförmig. Für Tati, der auch die Hauptrolle spielte, war sein Stadtentwurf auch ein Ort des Scheiterns. Für den Film ließ er eine ganze Kulissenstadt aufbauen, entsprechend hoch waren die Kosten. Auch wenn der Film heute als Meisterwerk gilt, war er für Tati ein Misserfolg. Er ging bankrott.
Der Rhythmus der Moderne: „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927)
Eine Dampflokomotive eröffnet den Reigen, und das ist Programm: Walther Ruttmanns „Sinfonie der Großstadt“ ist ein Dokument des hochfrequenten Rhythmus der noch jungen Industriegesellschaft, in der die Stechuhr das alltägliche Leben im Griff hat und die Urbanisierung gerade erst die Städte des Westens zu Metropolen anwachsen lässt. Der avantgardistische Stummfilm zeigt einen Tag in Berlin, damals eine der größten und schillerndsten Städte der Welt. Vom Morgengrauen bis in die Nacht, eine Collage in einem für damalige Sehgewohnheiten rasend schnellen Rhythmus, aus Stehimbissen, Amtsstuben, Fließbändern, Straßenbahnen, Varietés, aus Straßenszenen, Nahrungsaufnahme, Freizeitvergnügen und immer wieder Arbeit, Arbeit, Arbeit, all das passiert tausendfach parallel. Der Film ist eine Leistungsschau der Moderne, dem Ästhetik über alles geht und der nur zeigt, nichts hinterfragt. Schon damals warfen Kritiker ihm daher „soziale Blindheit“ vor – an seinem Status als faszinierendes Stück Kinogeschichte ändert das nichts.
Selten war Gewalt so schön: „City of God“ (2002)
„Cidade de Deus“ – was für ein zynisch schöner Name. Gegründet 1966, um die Favelas zurückzudrängen, entwickelte sich der Stadtteil schnell zu einem der gewalttätigsten von Rio de Janeiro. Der zum Teil auf realen Ereignissen beruhende Spielfilm „City of God“ erzählt von der Drogen- und Bandenkriminalität des Viertels in den 60er- bis 80er-Jahren und wählt dabei die Perspektive des jungen Fotografen Buscapé. Fernando Meirelles’ Inszenierung des Stoffes ist auch ein visuelles Spektakel, mit schnellen Schnitten und wunderschönen Retrofarben – eine manchmal nur schwer erträgliche Ästhetisierung der Gewalt, die der Qualität des Films jedoch keinen Abbruch tut.
Andere Städte haben auch schöne Filme
Noch mehr visueller Stoff für den nächsten Filmabend: Wien: „Der Dritte Mann“ (Carol Reed, 1949) / Hamburg: „Absolute Giganten“ (Sebastian Schipper, 1999) / Bombay, New York, Mexico City und Moskau: „Megacities“ (Michael Glawogger, 1998) / Tokio: „Lost in Translation“ (Sofia Coppola, 2003) / Hongkong: „Chungking Express“ (Wong Kar-Wai, 1994) / Berlin: „Oh Boy“ (Jan-Ole Gerster, 2012), „Der Himmel über Berlin“ (Wim Wenders, 1987) / Gotham City: „Batman“ (Tim Burton, 1989) / Istanbul: „Crossing the Bridge“ (Fatih Akin, 2005) / Memphis: „Mystery Train“ (Jim Jarmusch, 1989) / New York: „Manhattan“ (Woody Allen, 1979)
Und dann gibt es noch ganz viele tolle Filme aus und über Los Angeles. Aber darüber Mitte Oktober mehr auf fluter.de
Michael Brake und Felix Denk sind Redakteure bei fluter.de