Wie viel Staat braucht die Wirtschaft? Diese Frage hat in der gegenwärtigen Krise Hochkonjunktur. Soll der Staat angeschlagene Unternehmen durch Kapitalspritzen und Kreditbürgschaften oder gar direkte Beteiligungen retten? Kann der Staat es zulassen, dass – wie im Fall Opel – eine ganze Region durch die mögliche Pleite eines Großunternehmens und den Verlust Zehntausender Arbeitsplätze ihres wirtschaftlichen Rückgrats beraubt wird? Es scheint, als sei der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes nachhaltig erschüttert. Vor fast zwanzig Jahren, als die Bundesrepublik dieVolkswirtschaft der DDR erbte, war das anders. Man traute dem Markt alles zu, denn der Kapitalismus hatte sich als das wirtschaftlich leistungsfähigere der beiden Systeme erwiesen. So entschied man sich dafür, von der staatlichen Planwirtschaft schnellstmöglich zur Marktwirtschaft überzugehen, indem man die ehemals »Volkseigenen Betriebe« (VEBs) im Eiltempo privatisierte. Die Stilllegung oder das Eindampfen von Firmen, die auf dem freien Markt nicht überlebensfaÅNhig waren, den Verlust von Millionen von Arbeitsplätzen und die Deindustrialisierung ganzer Landstriche nahm man damals in Kauf. Sie erschienen als eine harte, aber notwendige Schocktherapie, auf die in Kürze ein selbsttragender »Aufschwung Ost« folgen würde.
Alles verkauft und trotzdem einen Schuldenberg hinterlassen
Im Erinnerungsbild vieler Ostdeutscher ist die Blitzprivatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand-Anstalt, kurz Treuhand, von 1990 bis 1994 eher als »Abbau Ost« präsent.Damals verkaufte die zeitweise größte Staatsholding der Welt in weniger als fünf Jahren fast 14.000 Ostunternehmen an private Investoren und schloss zahlreiche weitere Betriebe für immer. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft kostete nicht nur 80 Prozent der Erwerbstätigen vorübergehend oder auf Dauer den Arbeitsplatz. Sie war auch ein gigantisches Verlustgeschäft für den deutschen Staat. Noch im Oktober 1990 hatte Treuhand- Chef Detlev Karsten Rohwedder den Wert der Treuhand-Betriebe recht hoch geschätzt: »Der ganze Salat ist 600 Milliarden wert«. Am Ende verdiente die Treuhand am Verkauf von Betrieben und Grundstücken gerade einmal 66,6 Milliarden Mark. Die Ausgaben überstiegen die Einnahmen jedoch bei Weitem. Die Kosten für den massiven Arbeitsplatzabbau in den Betrieben und die Beseitigung ökologischer und sonstiger Altlasten, Kreditbürgschaften, Verlustausgleichszahlungen an die Investoren,Beraterhonorare und die Altschulden der Betriebe, all das schlug bei der Treuhand zu Buche. Bei ihrer Selbstauflösung Ende 1994 hinterließ sie einen Schuldenberg von rund 250 Milliarden Mark.
War die DDR-Wirtschaft nach 40 Jahren »real existierendem Sozialismus« tatsächlich keinen Pfifferling mehr wert, wie die Treuhändler behaupteten, oder ist das ostdeutsche Produktivvermögen im Schlussverkauf DDR auf verantwortungslose Weise verramscht worden, wie Treuhand-Kritiker meinen? Die Frage, wie man eine zentralistische Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft transformiert, war bis zum Zusammenbruch des Ostblocks niemals ernsthaft erörtert worden. Es gab weder Lehrbücher noch Präzedenzfälle. Dieses Argument führen die Treuhänder gern ins Feld, wenn man ihnen den Ausverkauf der DDR-Wirtschaft und das Plattmachen ganzer Industrien vorwirft. Zudem sei die Mehrzahl der Treuhandunternehmen mit etwa vier Millionen Beschäftigten, die sich 1990 im Besitz der Treuhand befanden, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht überlebensfaÅNhig gewesen. Umso verwunderlicher ist es, dass man sich angesichts dieser Diagnose dennoch dazu entschloss, den Markt zum Richter über Tod und Leben der ehemaligen VEBs zu machen. Privatisierung nach Treuhand-Rezept, das bedeutete die Betriebe schleunigst an private Investoren zu verkaufen. Birgit Breuel, Nachfolgerin des 1991 von der Rote Armee Fraktion (RAF) erschossenen Treuhandpräsidenten Rohwedder, stellte die einfache Formel auf: »Schnelle Privatisierung bedeutet schnelle Sanierung.«
Die Treuhand erbte nicht nur eine nach westlichen Maßstäben vielfach veraltete und unproduktive Ökonomie, sondern auch eine Volkswirtschaft, die durch die deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 mit einem Schlag ihrer Märkte beraubt worden war. Die Übernahme der D-Mark durch die DDR machte ostdeutsche Produkte in den Ostblockstaaten, wohin zwei Drittel der Exporte gingen, über Nacht unbezahlbar. Im Westen hatte die DDR ihre Produkte oft nur aufgrund des für den Außenhandel geltenden, inoffiziellen Umrechnungskurses von 4,40 DDR-Mark zu einer D-Mark verkaufen können. Auch dieser war nach der Währungsunion hinfällig. Zugleich wurde der ostdeutsche Binnenmarkt über Nacht mit Westprodukten überschwemmt. Es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, dass die DDR-Bürger, deren Sparguthaben bis zu einer bestimmten Höhe (je nach Alter 2.000, 4.000 oder 6.000 Mark) im Kurs 1:1 in D-Mark umgetauscht worden waren, den Niedergang der DDR-Industrie nach Kräften beschleunigten, indem sie mit dem neuen, »echten« Geld all die Dinge kauften, die es in der DDR gar nicht oder nur in minderer Qualität gegeben hatte. Die politischen Visionäre, die im Osten die Wende gemanagt hatten, Bürgerrechtler, Künstler und Intellektuelle, konnten angesichts dieser Blitzmetamorphose des befreiten Volkes zu Bilderbuchkonsumenten nur die Köpfe schütteln.
Mit einem Schlag wurde die DDR ihrer Märkte beraubt
Die Währungsunion, die Bundeskanzler Helmut Kohl trotz der Bedenken der Bundesbank und anderer Kritiker hinsichtlich des Zeitpunktes und des Umtauschkurses durchsetzte, war zweifellos eine Katastrophe für die ostdeutsche Industrie. Für den Machterhalt des Kanzlers erwies sie sich jedoch als wesentlich. Das Versprechen, die D-Mark einzuführen und auf eine baldige Wiedervereinigung hinzuarbeiten, sicherte den DDR-Christdemokraten den Sieg in den ersten und letzten freien Wahlen in der Geschichte der DDR im März 1990 und bereitete Kohls eigene Wiederwahl bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 vor. Nebenbei stoppte die Währungsunion vorerst auch die Massenflucht von DDR-Bürgern in den Westen. Sicher ist, dass die Währungsunion vor allem eine gigantische Staatssubvention für die westdeutsche Wirtschaft war, die ungestüm auf den neuen Markt drängte. Von Mitte 1990 bis 1997 wurden Waren und Dienstleistungen im Wert von 1,4 Billionen DM von West nach Ost transferiert. Das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt stieg vor allem aufgrund der Nachfrage im Osten bis 1991 um fünf bis sechs Prozent, während es in der Noch- bzw. Ex-DDR im selben Zeitraum um fünfzehn bis zwanzig Prozent schrumpfte.
Eine nach außen abgeschottete, technologisch veraltete und über weite Strecken unproduktive sozialistische Planwirtschaft war von einem Moment zum nächsten dem freien Markt und einem Zusammenprall mit der leistungsfähigsten Volkswirtschaft Europas ausgesetzt worden. Als die Treuhand sich anschickte, die ostdeutsche Wirtschaft zu »privatisieren« blieb ihr in vielen Bereichen oft wenig mehr, als die Trümmer der Kollision aufzusammeln, die postsozialistische Konkursmasse schnellstmöglich abzustoßen. Die große Schnelligkeit, mit der die Treuhand sich ihrer Aufgabe entledigte und der Zeitdruck, unter den sie sich dabei selbst setzte, ist vielleicht das bemerkenswerteste Merkmal ihres Wirkens. Wo es an Zeit fehlte, stand der Anstalt immerhin eine andere Ressource in ausreichender Menge zur Verfügung: Geld. Womit denn auch nicht gespart wurde. Beträchtliche Summen wurden an im Osten tätige westdeutsche Liquidatoren, Unternehmensberater, Wirtschaftsprüfer und Notare gezahlt. Juristische Berater kassierten Stundensätze von bis zu 600 DM, Unternehmensberatungen wie Roland Berger, BCG, Kienbaum und Price Waterhouse erhielten für jede Außenstelle im »wilden« Osten bis zu 250.000 DM monatlich. Findige »Consultants« stellten für ihre Dienste 2.000 bis 4.000 DM pro Tag in Rechnung, bis die Treuhand nach Protesten des Bundesrechungshofes und interner Prüfung den Höchstsatz auf 2.000 DM begrenzte. Auch Politprominenz engagierte sich im Osten. Klaus von Dohnanyi (SPD), Exbürgermeister von Hamburg, beriet die Treuhand für einen hohen Tagessatz. Für Liquidatoren erwies sich das Betriebssterben im Osten als wahrer Segen, Millionenbeträge als Honorare waren keine Seltenheit.
Die Berater aus dem Westen bekamen schöne Ostzulagen
Die mit Abstand größten volkswirtschaftlichen Kosten ergaben sich jedoch aus den sozialen Folgen der marktwirtschaftlichen Rosskur und aus den ökologischen und sonstigen »Altlasten« der DDR-Betriebe, die plötzlich nach westdeutschen Maßstäben gemessen wurden. So wurden potenziell lukrative Privatisierungen zum Verlustgeschäft für die Treuhand. Beim Verkauf der ostdeutschen Braunkohlewirtschaft übernahm die Treuhand die Kosten für 95.000 Entlassungen ebenso wie für die Beseitigung sämtlicher ökologischer Altlasten – Rekultivierung durchwühlter Mondlandschaften, Müll- und Abraumbeseitigung und vieles mehr. Bei der Veräußerung der ostdeutschen Vereinigten Energiewerke (VEAG) (Jahresumsatz 1991: 6 Milliarden Mark) an Preussen- Elektra, RWE, die Bayernwerk AG und die EBH zahlte die Treuhand trotz des Kaufpreises von mehreren Milliarden Mark am Ende noch drauf. Die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), die 1995 die noch verbliebenen Treuhand-Firmen übernahm, stellte bei 2.700 Verträgen aus der Frühphase der Privatisierung zum Teil grobe Unregelmäßigkeiten fest. Schlagzeilen machten dabei nur die wirklich großen Skandale, wie zum Beispiel der Verkauf der Geräte- und Regler- Werke Teltow an die westdeutschen Investoren Claus Wisser und Roland Ernst für eine Mark. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass allein der Substanzwert des Betriebes um die 170 Millionen Mark wert gewesen war. Ebenfalls eine Mark zahlten indische Investoren für die Textilbetriebe Thüringische Faser und Sächsische Kunstseiden GmbH. Nachdem die versprochenen Investitionen ausblieben, mussten die Firmen 1993 Konkurs anmelden. Bei derartigen »Geschäften« nimmt es nicht Wunder, dass ein Mitglied des Treuhand-Vorstandes bitter bemerkte, man habe oftmals nicht Betriebe ver-, sondern Investoren gekauft. Eine Privatisierung, bei der der Verkäufer den Markt zunächst durch ein riesiges Überangebot verzerrt und sich zudem noch selbst unter immensen Zeitdruck setzt, hat tatsächlich mit Marktwirtschaft nicht viel zu tun. Leitende Treuhand-Mitarbeiter erhielten gar Prämien für schnelle Privatisierungen. Potentielle »Investoren« hätten in keiner besseren Verhandlungsposition sein können.
Leistungsfähige Industrie- und Wachstumskerne enstehen
Eine Studie ermittelte, dass sich Ende 1994 von 1.247 Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten im Osten 62,7 Prozent in Westbesitz befanden. Der Anteil stieg mit der Größe der Betriebe. Die meisten dieser Betriebe wurden als »verlängerte Werkbänke« westdeutscher Konzerne klassifiziert. Forschungsund Entwicklungsabteilungen gab es in ihnen nicht mehr, sie dienten im Wesentlichen der kurzfristigen Kapazitätsausweitung und der Fertigung von Einzelkomponenten für den Mutterkonzern. In nur 280 Privatunternehmen in den neuen Bundesländern gab es noch mehr als 500 Beschäftigte. Zwischen 1989 und 1997 ging die Zahl der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe von 4,3 Millionen auf 1,9 Millionen zurück. Bis heute hat der Osten diese Strukturimplosion nicht verwunden. Hohe Arbeitslosigkeit, Massenabwanderung junger und qualifizierter Arbeitskräfte und Überalterung der zurückbleibenden Bevölkerung prägen bis heute das Bild in weiten Teilen der neuen Bundesländer. Dennoch hat es seit dem Ende des Wirkens der Treuhandanstalt auch positive Entwicklungen gegeben – nicht zuletzt aufgrund milliardenschwerer Transferleistungen von West nach Ost im Rahmen des Solidarpaktes. Neben den immer wieder gern als Indikatoren eines Aufschwungs bemühten Erfolgen beim Ausbau der Infrastruktur und der Erneuerung von Städten und Gemeinden, haben sich besonders in Sachsen und Thüringen leistungsfähige Industrie- und Wachstumskerne herausgebildet. Die Arbeitslosenquote im Osten lag zwar im November 2008 mit 11,8 Prozent noch immer doppelt so hoch wie im Westen, stand aber auf dem niedrigsten Niveau seit 1991. Abgesehen von den Auswirkungen der aktuellen Krise, die niemand vorhersehen kann, ist eine generelle Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West jedoch noch lange nicht in Sicht. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Osten lag im Jahr 2007 bei etwa 70 Prozent des Westniveaus, und auch die negative Bevölkerungsentwicklung stimmt noch immer nachdenklich. Eine Prognose geht davon aus, dass einige der neuen Länder bis 2030 mehr als ein Viertel ihrer ohnehin seit Wendezeiten merklich geschrumpften Bevölkerung verlieren könnten. Ob ein wirklicher Aufschwung Ost bis dahin zu einer Kehrtwende geführt haben wird, bleibt fraglich.