Am Morgen, kurz nach sechs Uhr, steht die Sonne überm Roßfeld und taucht die schroffen Felsen rings um Berchtesgaden in ein zartrotes Licht. Drunten im Tal ahnt man nichts davon. Eine dicke Wolkendecke liegt noch über Berchtesgaden und seinen Nachbargemeinden, verhüllt den Blick aus Häusern und Straßen auf Himmel und Berge. Hier oben aber, in knapp 1.000 Metern Höhe auf dem Obersalzberg, ist die Luft frei und klar. Man steht über den Wolken. So muss es gewesen sein in der Zeit, als die Berge noch keine Namen trugen und kein Mensch ihnen die Unschuld genommen hatte.

Aber die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, erst recht nicht auf dem Obersalzberg. Vor fast acht Jahrzehnten nahmen Adolf Hitler und sein Gefolge den 969 Meter hohen Berg in Beschlag. Der Diktator zwang Bergbauern und Pensionswirte dazu, ihre Häuser und Grundstücke zu verkaufen, um auf dem Obersalzberg SS-Kasernen und kilometerlange Tunnelsysteme anzulegen.

Sein einstiges Sommerhäuschen am Hang, später Berghof genannt, wurde zu einem zweiten Regierungssitz mit gewaltiger Panoramaterrasse ausgebaut. Auch Hermann Göring, Albert Speer und Martin Bormann bezogen Häuser auf dem Obersalzberg.

All diese Gebäude gibt es heute nicht mehr. Die Amerikaner ließen sie nach Kriegsende schleifen und erklärten den Berg zum Sperrgebiet. Die Ruinen des Berghofs, den britische Bomber erst wenige Tage vor Kriegsende angriffen, wurden gesprengt. Nichts sollte mehr an die Nazis erinnern.

Ein versteckter Waldweg abseits einer Nebenstraße führt heute dahin, wo der Berghof stand. Das Grundstück ist inzwischen mit hohen Bäumen zugewachsen. Im Wald findet man nur Treppenreste und ein paar Ziegelsteine aus dem alten Mauerwerk. Auf einer silbernen Metalltafel wird auf Deutsch und Englisch die Geschichte des Berghofs erzählt. „Hier wurden Entscheidungen getroffen, die in die Katastrophe von Weltkrieg und Holocaust führten“, lautet das lakonische Ende des Textes. Das Wort Holocaust, das ist an den Kratzspuren zu erkennen, musste auf der Tafel bereits erneuert werden.

Der Ärger des Bürgermeisters

Einen „Unort“ hat die „New York Times“ Berchtesgaden einmal in einer Reportage genannt. Wegen des Obersalzbergs, der zu der Marktgemeinde gehört. Bürgermeister Franz Rasp, ein sportlicher, freundlich dreinblickender Mann von 41 Jahren, ärgert sich darüber. „Ist Nürnberg wegen des Zeppelinfeldes auch ein Unort – oder Berlin mit seinem Olympiastadion?“, fragt er. Die Begeisterung der Berchtesgadener für die Nationalsozialisten habe sich in der NS-Zeit sehr in Grenzen gehalten, schon wegen der Enteignungen auf dem Berg. „Und auch heute werden sie hier kein rechtes Gedankengut entdecken, hier gibt es keine Skinheads, Neonazis oder NPD-Wähler“, sagt Rasp.

Zwar brenne oben am Berghof ab und zu einmal eine Kerze, die irgendein Spinner von außerhalb angezündet habe. Aber das seien Einzelfälle, beteuert Rasp. „Wir wissen, unsere Gemeinde muss mit der dunklen Vergangenheit dieses Ortes leben“, sagt er. „Aber es ist eben eine Vergangenheit.“

Mit der Vergangenheit leben muss auch das „InterContinental Berchtesgaden Resort“, ein Luxushotel der Kategorie „Fünf Sterne Superior“. Der hufeisenförmige, aus viel Stein und noch mehr Glas bestehende Vier-Etagen-Bau schmiegt sich elegant an der höchsten Stelle des Bergs, dem Eckerbichl, in die Landschaft. Hier kann man für knapp 300 Euro pro Nacht aufwärts eines der 138 großzügigen Zimmer oder eine der Suiten bewohnen und sich im luxuriösen Mountain Spa verwöhnen lassen.

Glamour statt Grauen auf der einstigen Hitler-Höhe? Michael Caspar, Geschäftsführer des Berchtesgaden Resort, schüttelt ein wenig genervt den Kopf. „Natürlich hat der Berg seine Geschichte“, sagt er etwas barsch, „aber die hätte er ja auch, wenn dieses Hotel nicht hier stehen würde.“ Aber ist ein Hotel an einem geschichtlich so belasteten Ort wie dem Obersalzberg nicht doch etwas Besonderes? Wieder runzelt Caspar die Stirn, es ist zu spüren, dass er dieses Thema nicht mag. „Für die Geschichte“, sagt er schließlich, „ist das Dokumentationszentrum zuständig. Eine Viertelstunde Fußweg von hier durch den Wald.“

Vor 15 Jahren ist die Dokumentation Obersalzberg unweit des alten Berghofs eröffnet worden. Die vom Münchner Institut für Zeitgeschichte konzipierte Ausstellung hat bisher weit über zwei Millionen Besucher angelockt. Fast 20 Jahre ist es inzwischen her, dass die USA nach ihrem Abzug das volle Verfügungs- und Nutzungsrecht am Obersalzberg an den Freistaat übertrugen. Seitdem ist fast der gesamte Berg im bayerischen Staatsbesitz, und das soll er auch bleiben. Denn München will vor allem verhindern, dass das einstige Hitler-Refugium doch noch zur braunen Wallfahrtsstätte verkommt. Erreichen will man dies mit dem sogenannten Zwei-Säulen-Konzept – historische Aufarbeitung plus touristische Erschließung.

Ganz bewusst hatte sich die Staatsregierung dagegen entschieden, den Berg für den Massentourismus zu erschließen, um Hitler-Verehrer fernzuhalten. Also setzte der Freistaat für 50 Millionen Euro das luxuriöse Berchtesgaden Resort auf den Berg. „Es war von Anfang an ein politisches Projekt“, sagt Geschäftsführer Caspar. „Und das ist es auch noch heute, denn betriebswirtschaftlich gesehen bleibt das Hotel ein Zuschussgeschäft.“ Für den Betreiber InterContinental kein Problem, denn alle Kosten zahlt das Land Bayern.

Die Vorbehalte der Berchtesgardener

Bürgermeister Rasp räumt ein, dass es in der Gemeinde am Anfang Vorbehalte gegen das Luxushotel auf dem Berg gegeben habe. Viele Einwohner hätten darin einen Fremdkörper gesehen, der in das Tourismuskonzept der Wanderregion Berchtesgadener Land nicht hineinpasst. Auch gab es Befürchtungen, dass der Obersalzberg künftig wieder nur einem elitären Zirkel vorbehalten bleiben soll. Aber die Hotelbetreiber hätten in den vergangenen Jahren alle diese Sorgen zerstreut, sagt Rasp. „Das Hotel hat sich sehr stark der Gemeinde geöffnet, es gibt in den Sommermonaten eine ganze Reihe von Veranstaltungen dort, die sich vor allem an die regionale Bevölkerung richten“, sagt er.

Hinzu komme, dass das Hotel dem „sehr sensiblen Gebiet Obersalzberg“ gutgetan habe. „Ohne das Hotel und das Dokumentationszentrum hätte die Gefahr bestanden, dass Leute auf den Berg kommen, die wir hier nicht haben wollen“, sagt der Bürgermeister. „Denn was wir nicht wollen, das sind Hoteliers, die mit dem Flair des Bösen Gäste anlocken.“

Ein wenig spielt Rasp damit auf das Hotel „Zum Türken“ an, das nur ein paar Hundert Meter unterhalb des Berchtesgaden Resorts und in unmittelbarer Nachbarschaft zum einstigen Berghof liegt. Das gut 100 Jahre alte Hotel, das mittlerweile in vierter Familiengeneration betrieben wird, ist das einzige private Grundstück auf dem staatseigenen Obersalzberg. Die Eigentümer hatten es nach dem Krieg zurückkaufen dürfen, weil es in der NS-Zeit enteignet worden war, um dort die Fernsprechzentrale der SS unterzubringen. Unter dem Gebäude befindet sich ein weit verzweigtes Bunkersystem, das jeder für 2,60 Euro Eintritt durchstreifen kann. Informationstafeln oder Audiokommentare, die den historischen Hintergrund der unterirdischen Anlage einordnen, gibt es hier – anders als im Dokumentationszentrum – nicht.

Ein Anziehungspunkt für alte oder neue Nazis aber sei der NS-Bunker dennoch nicht, auch wenn dieser Verdacht in der Stadtverwaltung immer mal wieder geäußert wird. Monika Scharfenberg, die die Leitung des Hotels nach dem Tod ihrer Mutter 2013 übernommen hat, kennt diese Diskussionen. Jahrelang hat sie in der Tourismusinformation von Berchtesgaden gearbeitet. „Was wurde da im Rathaus nicht immer alles gemunkelt, was sich hier oben so abspielt“, sagt sie und lacht: „Ein Schmarrn.“

Sechs Monate im Jahr, von April bis Oktober, hält sie das Haus geöffnet. So hat es auch ihre Mutter schon getan. Ihre Gäste sind überwiegend Ausländer, Amerikaner zumeist, die den „Türken“ noch aus der Besatzungszeit kennen oder von ehemali-gen US-Soldaten empfohlen bekommen haben. „Die kommen nicht wegen des Bunkers unterm Haus, die wollen mein Hotel erleben, das eine ganz besondere Zeitreise bietet“, sagt die 58-Jährige.

Tatsächlich ist das Hotel „Zum Türken“ das ganze Gegenteil des Luxus-Neubaus auf dem Eckerbichl. Ein Museum fast, in dem die Zeit in den 60er-Jahren stehen geblieben ist. Es gibt ein Gemeinschaftsbad auf der Etage, eine – inzwischen allerdings zur Besenkammer umfunktionierte – Telefonzelle auf dem Flur, eine Hotelbar mit Stehlampen und durchgesessenen Plüschsesseln, in der sich die Gäste selbst aus dem Kühlschrank bedienen können. Wer fernsehen will, muss in den Clubraum und hoffen, dass die Zimmerantenne auf dem kleinen Gerät ein passables Bild zustande bringt. Internet gibt es nicht, ebenso wenig wie Telefon oder Fernseher auf den mit Möbeln aus der Wirtschaftswunderzeit ausgestatteten Zimmern.

Es gibt sie also doch, die Reise in die Vergangenheit. Aber womöglich nicht so, wie es sich einige Ewiggestrige erhoffen.

Fotos: Ralf Meyer/VISUM; Martin Zwick/VISUM; picture alliance/Heritage Images