fluter.de: Vor rund zweieinhalb Jahren protestierten in Berlin weit über 100.000 Menschen gegen den geplanten Freihandelspakt TTIP zwischen Europa und den USA, es war die größte Demo in Deutschland seit Jahrzehnten. Seit der Wahl von Donald Trump aber scheint TTIP tot. Der US-Präsident plant jetzt sogar neue Zölle und will den freien Handel revidieren. Kann man sagen, dass Trump umsetzt, was die Demonstranten in Berlin wollten?
Claudia Schmucker: Trumps Ziel ist ja „America First“. Ich vermute nicht, dass die Demonstranten das Gleiche wollten. Aber zweifellos ist es im Sinne der Demonstranten, dass er über TTIP nicht weiterverhandelt. Neue Handelsschranken mögen zwar auf den ersten Blick manchem Kritiker gefallen, aber ich glaube nicht, dass Trumps Maßnahmen am Ende deren Zielen dienen.
Initiatoren der Proteste waren größtenteils linke, christliche, linksliberale Globalisierungskritiker. Auch damals schon hängten sich Rechtspopulisten und rechte Verschwörungsideologen an den Protest. Gibt es Schnittmengen zwischen der rechten und der linken Freihandelskritik?
Ja, die gibt es. Auch wenn die Begründungen sich natürlich unterscheiden. Was beide befürworten, ist eine Rückkehr zum Nationalen. Von der linken Seite ist es die Forderung nach lokalen und regionalen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Motto: Warum nehmen wir nicht die Produkte der Biobauern aus der Umgebung, anstatt solche Waren zu importieren? Dazu kommt der Vorwurf, dass wir die Öffnung der Märkte nicht bräuchten, sie diene vor allem den großen Unternehmen. Und die machten Gewinne zulasten der Bevölkerung. Das trifft sich mit der Position der Rechten, die sagen: Die Antwort auf „America First“ ist „Deutschland zuerst“. Solche Töne gibt es in ganz Europa: Marine Le Pen hat sie im Wahlkampf um die französische Präsidentschaft angeschlagen, und in Osteuropa kämpft etwa Ungarns Regierungschef Viktor Orbán gegen die „Globalisten“.
„Anders als die Freihandelsgegner von rechts will der Großteil der Globalisierungskritiker eine konstruktive Rolle spielen“
Müssen sich manche Globalisierungskritiker vorwerfen lassen, dass sie die Trennlinie nicht scharf genug gezogen und den nationalistischen Reflex bedient haben?
Trotz der Übereinstimmungen, die es zweifellos gibt, müssen sie sich das nicht vorwerfen lassen. Natürlich haben auch die Globalisierungskritiker mit stark verkürzten Slogans und einfachen Wahrheiten gearbeitet. Aber sie haben – anders als die Kritiker von rechts – sehr konkrete Vorstellungen geäußert, wie sie sich einen besseren Welthandel vorstellen. Zum Beispiel haben sie sich immer klar für globale Handelsabkommen ausgesprochen. Sie verlangen allerdings andere Abkommen, in denen sie zum Beispiel die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in den Mittelpunkt gestellt sehen wollen. Aber anders als die Freihandelsgegner von rechts will der Großteil der Globalisierungskritiker eine konstruktive Rolle spielen, anstatt den Freihandel rundweg abzulehnen.
Wie groß schätzen Sie generell das Unbehagen gegenüber freiem Handel und globalisiertem Warenaustausch in Deutschland ein? Und woher kommt es?
Man sollte den Protest gegen TTIP und das mit Kanada geschlossene CETA-Abkommen nicht mit einer generellen Anti-Freihandelsstimmung verwechseln. In diesen Fällen haben sich die Vorbehalte doch sehr stark gegen Amerika gerichtet. Wir verhandeln in Europa solche Abkommen derzeit mit diversen anderen Staaten, und ich habe niemanden gesehen, der – zum Beispiel – gegen das EU-Japan-Abkommen auf die Barrikaden geht. Es gab eine große Angst, dass die amerikanische Wirtschaftsordnung und die amerikanischen Werte durch TTIP zu uns herüberschwappen. Wenn es jenseits dessen Vorbehalte gegen Freihandel generell gibt, hängen sie meistens mit den Themen der Globalisierungskritiker zusammen. Bei den Protesten gegen TTIP wurde gegen alles Mögliche protestiert: gegen die Amerikaner, gegen Globalisierung, gegen Unternehmen, gegen Kapitalismus, gegen Unsicherheit, gegen Veränderung. Den Reflex der Nationalisten nach dem Motto „Wir müssen uns schützen“ sehe ich in Deutschland kaum. Hingegen spielen Arbeitsbedingungen, Umweltschutz, Verbraucherschutz eine gewisse Rolle.
Im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Rechtspopulisten in Amerika und Europa wird viel von den „Abgehängten“ gesprochen. Menschen, die Globalisierungsverlierer sind, weil – zum Beispiel – die Jobs, die sie ausüben könnten, inzwischen in Mexiko und China erledigt werden. Haben die Fürsprecher des freien Handels diese Folgen unterschätzt?
Absolut. In der Wirtschaftswissenschaft gab es immer viele Theorien, die sich widersprechen – nur in einem waren sich fast alle einig: dass Freihandel gut ist. Man hat viel zu wenig auf den Aspekt geschaut, dass der globale Warenaustausch eben nicht allen nutzt. Erst der Harvard-Ökonom Dani Rodrik hat vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht reicht, auf die selig machende Kraft des freien Handels zu vertrauen. Man müsse auch die Verteilung des Reichtums untersuchen. Diese Frage haben alle verschlafen, und so sind überhaupt erst die Protestwelle und viele Vorbehalte bei den Leuten entstanden. Auch die Europäische Kommission und die deutsche Bundesregierung haben viel zu spät reagiert und eingesehen, dass es auch berechtigte Bedenken gibt. Sicher, vieles, was gegen TTIP vorgebracht worden ist, war schlicht falsch. Aber es gibt eben auch vieles, das man ernst nehmen muss. Und man muss sich viel mehr um all jene kümmern, die nicht mehr mitkommen in einer globalisierten Wirtschaft. Da sind vor allem die sozialen Sicherungssysteme wichtig.
„Man hat viel zu wenig auf den Aspekt geschaut, dass der globale Warenaustausch eben nicht allen nutzt“
Die Versprechungen der Freihandelsbefürworter waren immer riesig: Ärmere Länder könnten wirtschaftlich mitmischen und aufsteigen, Korruption und Willkür würden schwinden, Verbraucher bekämen Transparenz, innovative Firmen Chancen. Haben sich diese Versprechen erfüllt?
Ganz klar: Ja. Schauen Sie sich nur an, wie viele Leute in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus der Armut herausgekommen sind. In den großen Schwellenländern wird der Freihandel überhaupt gar nicht infrage gestellt, weil er diesen Ländern genutzt hat. Die Schattenseite ist nur, dass wir als Land mit relativ hohen Arbeitskosten mit Niedriglohnländern konkurrieren. Wir können daher in unserem Land nicht mehr auf die Produktion einfacher Produkte setzen. Das ist einfach nicht mehr wettbewerbsfähig.
Linke wie Rechte sagen: Vom Freihandel profitieren überwiegend die Reichen. Viele Untersuchungen, etwa vom IWF, belegen die wachsende Ungleichheit auf der Welt. Treffen also die Kritiker von rechts und links einen wunden Punkt, wenn sie sagen: Das nützt nur einigen wenigen?
Dem würde ich nicht zustimmen. Am Ende profitieren die Arbeiter in der exportorientierten Industrie. Das ist in Deutschland ein Großteil der Arbeitnehmer. Wer nicht profitiert, sind die nicht Ausgebildeten, die gar keinen Job haben und auch keinen neuen finden, weil ihre Art der Ausbildung nicht mehr ausreicht. Aber alle, die jetzt schon etwa bei VW arbeiten oder in der Chemieindustrie, profitieren natürlich von Globalisierung.
Sollen wir also die wachsende Ungleichheit, die auch in Deutschland immer wieder konstatiert wird, einfach akzeptieren?
Wir haben ja immer noch den Staat, der umverteilen kann. Man darf nicht immer den Freihandel für alles verantwortlich machen. Wenn wir die wachsende Ungleichheit beklagen, dann müssen wir unser Bildungssystem verbessern, im Steuersystem mehr Gerechtigkeit schaffen, dann müssen wir fragen, ob Hartz IV das Richtige ist.
Was Rechte fordern, aber auch mancher Linke predigt, ist eine Renationalisierung der Wirtschaft: die Idee, dass wir das Rad wieder zurückdrehen können zu Wirtschaftskreisläufen, die regionaler oder nationaler sind und von Schutzmaßnahmen profitieren. Wie realistisch ist das in einer Welt, in der zum Beispiel jedes Auto aus Teilen besteht, die aus mehr als 100 Ländern kommen?
Mir erscheint es völlig unrealistisch. Es gibt eben nicht mehr das deutsche Produkt, das exportiert wird. Es gibt Wertschöpfungsketten. Wenn wir die unterbrechen, schaden wir uns selbst. Auch Trump schadet sich selbst, wenn er Strafzölle auf Stahl und Aluminium erhebt, er schadet der verarbeitenden Industrie in den USA, die viel größer ist als die Stahlindustrie. Die Amerikaner sind diejenigen, die möglicherweise am längsten mit solch einer nationalen Politik durchhalten können, weil der eigene Markt so groß ist. Bei uns ginge das nicht lange gut. Wenn wir uns auf Deutschland konzentrieren oder auf den europäischen Markt, da können wir sofort zumachen.
Nun geben Sie dennoch den Kritikern in vielen Punkten recht. Wie kann man das berücksichtigen und Freihandel besser machen?
Bei allen Handelsabkommen ist inzwischen bei den Europäern das Bedürfnis zu spüren, sehr viele von jenen Standards, die etwa auch die Grünen aufgegriffen haben, mit aufzunehmen. Da geht es um Arbeitsbedingungen, Umweltstandards und Verbraucherschutz. Es wird auch über Sanktionen nachgedacht für den Fall, dass jemand dagegen verstößt. Die EU hat sich eine neue Handelsstrategie gegeben, die heißt „Trade for all“. Ziel ist, dass der Handel nicht nur den Unternehmen zugutekommen soll, sondern auch den Verbrauchern, den Konsumenten und auch noch den Entwicklungsländern. Ich glaube, dass es wirklich sehr gute Reformen gab, die durch die Debatte um TTIP ausgelöst wurden. Gerade im Bereich Umwelt und Entwicklung wird da sehr viel mehr passieren. Allerdings ist auch schon zu beobachten, dass nicht alle Verhandlungspartner unbedingt bereit sind, sich auf solche Ideen einzulassen.
Trotzdem, das klingt ja so, als sollten sich die Kritiker von links, die Kirchenleute und Gewerkschafter mit den Freihandelsbefürwortern verbünden – und gemeinsam den Nationalisten gegenübertreten?
Idealerweise sollte es so sein. Allerdings wissen wir natürlich noch nicht, wie weit wir mit diesen Ansprüchen kommen. Die Grünen etwa wollen eigentlich die Handelsabkommen als Klimaabkommen haben, und da stellt sich die Frage, ob man alle derartigen Anliegen in Handelsverträge integrieren kann. Aber natürlich sollten die Linken weiter konstruktiv mit den Freihandelsbefürwortern reden. Es gibt ja bereits Reformen, die daraus entstanden sind. Damit können sie sich glaubwürdig vom nationalistisch geprägten Reflex der Rechten distanzieren.
Titelbild: Melina Mara/The Washington Post via Getty Images