6°n. Sechs Grad Nord. Die Lounge mit kühlblau strahlender Glasbar, an der die Reichen und Schönen aus Cocktailgläsern Dirty Nipples, Abuse Machines und Absolute Testa Rossas trinken, ist nach den Koordinaten von Lagos benannt. Dritter östlicher Längengrad, sechster nördlicher Breitengrad. Hier fällt sie ins Weltraster, die nige-rianische Hafenstadt mit vielleicht 11 Milli-onen Einwohnern. Oder 18 Millionen. Je nachdem, welcher der zwei offiziellen Volkszählungen im Jahr 2006 man folgt. Die Ergeb-nisse liegen jedenfalls etwa so weit auseinander, wie die Schweiz Einwohner hat.
Raphael Godwin ist Türsteher im 6°n. Anders ausgedrückt: Er hat es geschafft. Der Mann aus dem berüchtigten Armenviertel Ajegunle hat einen Job, um den ihn viele beneiden. 20 000 Naira, 117 Euro, verdient er im Monat. Der billigste Champagner im 6°n geht für 87 Euro über den Tresen. Seinen Job hat der Mittvierziger seiner Figur zu verdanken. Vom rasierten Vierkantschädel abwärts türmen sich Muskelberge, die jeden Störer zu erdrücken drohen. Godwin stemmt locker 400 Pfund am Stück in einem der unzähligen Fitnessstudios, die sich in Hinterhöfen der erbärmlichsten Viertel verstecken, in Ajegunle, Okobaba, Bariga und vielen mehr.
Die Wohlhabenden von Lagos verirren sich hierher nicht. Nur die Armen kennen beide Welten. Wenn die Banker, Geschäftsleute und Landbesitzer im täglichen Stau stehen, sind die Habenichtse immer schon da. Als fliegende Händler paradieren sie bei 40 Grad ihre Waren an den Autofensterscheiben entlang, hinter denen die Fahrer in klimatisierter Kühle sitzen. Mit Wasserbeuteln, Taschentüchern, Spielzeug, Erdnüssen, Autoersatzteilen, Sonnenbrillen, Handykarten zwängen sie sich zwischen den Blechlawinen hindurch. Und konkurrieren um die Lücken zwischen den Autos noch mit den dauerhupenden okáda, den Mopedtaxis.
„Lagos ist ein einziger Markt“, sagt der Architekturprofessor David Aradeon. Bis wenige Zentimeter an die Autos heran drängen die Marktstände. Rohe Fleischbrocken stapeln sich, geschälte Orangen formen Pyramiden. Selbst unter den mächtigen Fly-overs, den Autobahnen auf Betonpfeilern, wird gekauft und verkauft, schlafen Menschen bei ihren Ständen.
Was man in Lagos vergeblich sucht, ist eine öffentliche Hand, die schützend oder ordnend eingreift. Wenn sie sichtbar wird, dann zum Beispiel so: Ein Stau vor Ajegunle, euphemistisch „go slow“ genannt. Zwei gelbe Minibusse, in denen sich Marktfrauen mit ihren Körben drängen. Plötzlich tauchen ein Dutzend Polizisten auf, Spezialeinheit, Männer in schwarzen T-Shirts, auf denen „Raider“ steht. Sie stellen sich mit ihren Gewehren vor die Fahrzeuge, schreien „Raus!“, zerren die ersten Passagiere aus den Bussen. In einer Minute haben die Polizisten die öffentlichen Verkehrsmittel samt Fahrern gekapert und bahnen sich ihren Weg zu irgendeinem Spezialeinsatz. Die meisten Beobachter verziehen keine Miene. Es ist zu gewöhnlich. Die Polizei hat kaum eigene Fahrzeuge, dann nimmt sie sich eben, was sie braucht.
Ganz kurz einmal war Lagos sexy. Denn da sah plötzlich einer eine Ordnung, und zwar nicht irgendeiner, sondern der niederländi-sche Architekt Rem Koolhaas, der zur internationalen Avantgarde der Stadttheoretiker zählt. Er sagte sogar, die Frage sei nicht, „ob Lagos mit dem Westen Schritt halten kann, sondern ob wir in der Lage sind, mit Lagos Schritt zu halten“. Koolhaas war in den Neunzigerjahren im Präsidentenhubschrauber über die Stadt geflogen und hatte festgestellt, dass „aus der Luft betrachtet, der scheinbar brennende Müllhaufen in Wirklichkeit ein urbanes Phänomen ist, auf dessen Kruste eine hoch organisierte Gemeinschaft lebt“. Für solch im wörtlichen Sinn abgehobene Sicht bezog Koolhaas reichlich Schelte. Ein Kritiker der Zeitschrift New Yorker ätzte, mit einem so ästhetisch distanzierten Blick aufs Elend zu schauen sei genauso schlimm wie gar nicht hinzuschauen. Die Karawane des Avantgarde-Jetsets ist längst weitergezogen. Übrig geblieben sind die Lagosianer. Und unter ihnen jene, die versuchen, ihre Stadt ein wenig lebenswerter, ein wenig schöner zu machen.
Als vor zwei Jahren ein Dutzend Künstler in die Goriola Street einfielen, wussten die Bewohner nicht, wie ihnen geschah. Die Straße im Stadtteil Ajegunle ist ruhig, nur in der Ferne ist Mopedknattern zu hören. Sie wirkt wie ein Dorfweg, so wie viele Armenviertel und Slums eine in sich geschlossene Welt.
Oyediya Kalu und Olisakwe Motunrayo sitzen vor einem gelben Haus und erinnern sich. „Wir haben uns alle gewundert. Zuerst dachten wir, das ist irgendwas Rituelles“, sagt die 28-jährige Friseuse Motunrayo. In Nigeria fürchten sich viele vor Zauberei. „Dann haben sie uns gesagt, dass sie wirklich nur unse-re Straße schöner machen wollen.“ Ein bisschen wundert sie sich immer noch.
Die Idee hatte der nigerianische Künstler Emeka Udemba, der seit zehn Jahren in Freiburg lebt. Gemeinsam mit elf weiteren Künstlern aus Lagos und den Bewohnern bemalte der damals 39-Jährige in der Goriola Street Hauswände, stellte Skulpturen auf, veranstaltete ein großes Fest. „Ich wollte dem Ort durch Kunst eine Identität geben“, erklärt er. Die Menschen hier bräuchten einen Grund, sich nicht für ihre Herkunft zu schämen. Ajegunle ist berühmt für die Fußballer und Musiker, die es hervorgebracht hat. Newcastle-United-Stürmer Obafemi Martins oder Jonathan Akpoborie, früher beim VfL Wolfsburg, kommen aus Ajegunle. Aber noch größer ist der Ruf des Viertels als Kriminellen- und Versagernest.
Die Aktion hat sich gelohnt, meint Oyediya Kalu, die vor ihrem Haus Makkaroni und Kochbananen verkauft. „Unsere angemalten Häuser sind gut fürs Geschäft.“ Die Friseuse stimmt ihr zu: „Leute kommen, nur um zu schauen. Und dann kaufen sie was zu essen oder lassen sich die Haare machen. Auch die Musikindustrie kommt, die haben schon drei Videos hier gedreht.“
Für Emeka Udemba, der jährlich zurückkehrt in die Goriola Street, „ist das Wichtigste die Wirkung in den Köpfen. Die Leute haben gesehen, dass sie selber etwas tun können, um ihre Umgebung zu verbessern.“ Kulturjournalist Chuka Nnabuife von der in Lagos erscheinenden Zeitung The Guardian ergänzt: „Die Leute sollten einen Touch Schönheit bekommen. Kunst und Schönheit werden zu sehr als Vorrecht der Reichen gesehen.“
Schönheit, hat ein Schriftsteller gesagt, ist die Verheißung von Glück. Wenn das so ist, dann muss es sich lohnen, die Schönheit zu suchen in dieser Stadt, die aufs Gemüt drückt, in der oft tagelang die Sonne ausgesperrt wird von schweren, zum Greifen nahen Wolken, die einen monochromen Grauschleier über alles werfen, in der einem der Geruch von faulen Eiern und die süßlich-giftigen Dämpfe aus den Sägewerken an der Lagune Tränen in die Augen treiben.
Doch Projekte wie das von Ajegunle sind schwer zu finden. Auch orts- und szenekundigen Lagosianern fällt auf Nachfrage nur die Goriola Street ein. „Und selbst das kam von einem, der die Stadt verlassen hat“, sagte ein Architekt. Seine Kollegin fügte hinzu: „Solche Projekte klingen nicht nach lagosianischer Mentalität.“ Wo das Überleben so viel Kraft kostet, ist sich der Einzelne vielleicht noch mehr als anderswo selbst der Nächste.
Hinzu kommt: Lagos zermürbt die kreativen Geister, die etwas ändern wollen. An Plänen und Ideen fehlte es nie, nur hat noch keine Regierung mit der Umsetzung ernst gemacht. „Dies hätte eine schöne Stadt sein können“, sagt David Aradeon. Er spricht vom Spiel von Wasser und Land, von den frühen Gebäuden in brasilianischer Architektur, die der Stadt einen eigenen Charakter hätten geben können. Der 1932 geborene Architekt mit ausladendem weißem Afroschopf sitzt über einem Stadtplan von Lagos, gekauft in einem guten Buchladen. „Was ist das? Diese Karte ist Quatsch. Wer macht so etwas? Kein Kartograf jedenfalls.“ Land eingezeichnet, wo in Wirklichkeit Wasser ist, die Größenverhältnisse sind falsch und so weiter. Dabei war es der einzige Stadtplan, den es überhaupt gab. Aradeon erklärt, warum der Verkehr nicht funktionieren kann. Mit dem Finger fährt er Straßen entlang, der Finger erstarrt – die Straße hört einfach auf. Kein Fehler diesmal, so ist das Straßennetz von Lagos tatsächlich. Der emeritierte Stadtplaner schreibt heute lieber Aufsätze, als weiter zu hoffen, dass einmal einer seiner Pläne ausgeführt wird.
Ähnlich sieht es in der jüngeren Generation aus: Der Architekt Koku Konu imponierte 2002 bei einer Veranstaltung der Kasseler Kunstausstellung documenta mit Ideen zur Verbesserung der Lebensqualität. Mit seinen Kollegen vom CIA, der „Creative Intelligence Agency“, entwarf er zum Beispiel öffentliche Pissoirs, Pinkelrinnen mit Sickergruben, die ein Schritt in Richtung Hygiene gewesen wären. Aber die Stadtverwaltung finanzierte sie nicht. Heute fliegt Konu von einem westafrikanischen Land zum nächsten, um Banken zu bauen. „Man hat irgendwann keine Kraft mehr“, sagt er, am Telefon aus Gambia. „Es ist traurig, das zu sagen, aber: Unsere Ideen sind gescheitert.“ Ein noch jüngerer Architekt, Ayodele Arigbabu, entlädt sein kreatives Potenzial in einer bissigen Magazinkolumne. Als kürzlich das verrottende Nationaltheater verkauft werden sollte, das wie ein Raumschiff im grünen Sumpfland steht, schrieb der 27-Jährige: „Wie wär’s: Wir verkaufen es an eine Mega-Kirche? Die Kirchen wissen den Wert großer Gebäude wenigstens zu schätzen.“ Arigbabu spielte auf die riesigen Kirchen an, die sich entlang der Autobahn von Lagos nach Ibadan wie Satellitenstädte aneinanderreihen. Ihre Säle fassen mehr als 50 000 Menschen. Die Verheißung von Glück, hier findet sie statt, und Hunderttausende demonstrieren, wie sehr sie dieser Verheißung bedürfen. „Wenn du in Nigeria Gott nicht nahe stehst, stirbst du“, hatte in Ajegunle jemand gesagt. Und ergänzt: „Selbst die Räuber beten, bevor sie dich erschießen.“
Den Kreativen, deren Thema Lagos und seine Verwaltung ist, resignieren. Doch anderen, etwa Musikern, scheint die Lagunenstadt ständig Inspiration zu geben. Wie dem deutsch-nigerianischen Musiker Adé Bantu. „Ich kenne Lagos seit mehr als 25 Jahren und entdecke immer wieder Neues“, sagt der 36-jährige Mitgründer der afrodeutschen Gruppe Brothers Keepers. „Alles ist extrem hier, ich mag das: die Lautstärke, die extremen Gerüche, die Gegensätze.“ Klar, sagt er, sein Bild sei „romantisierend, weil ich immer wieder Abstand gewinnen kann. Lagos ist natürlich zugleich ein Moloch, hier gilt ‚survival of the fittest’.“ Aber, sagt Bantu, „Lagos gibt dir auch das Gefühl, dass sich das Leben am nächsten Tag um 180 Grad drehen könnte, dass du als Millionär aufwachst“.
Im Stadtteil Bariga muss man nur starkem Marihuana-Geruch folgen, um auf eine besondere Gruppe Glücksritter zu treffen. Desperados eher, die sogenannten area boys. Das ist der vage Sammelbegriff der Lagosia-ner für alles, was ihnen Angst macht. Area boys, das können Gangs sein, die vom einfachen Diebstahl über bewaffneten Raub bis zur von Poli-tikern gekauften Wahlkampfschlägerei alles im Programm haben. Auch harmlose Obdachlose werden schnell zu area boys erklärt, wenn man sich nur vor ihnen fürchtet. Wo der Slum ans Meer stößt, stehen sie an einem Wellblechverschlag, rauchen und trinken Gin mit Milch. Im Hintergrund zieht sich die Third Mainland Bridge zwölf Kilometer lang übers Meer, um Inseln und Festland von Lagos zu verbinden. „Gut, manchmal müssen wir kämpfen, um uns zu verteidigen“, sagt einer. Das hier sei schließlich ihr Revier. „No Money No Love“ steht auf einem T-Shirt. Sie erzählen von tagelangen Schlachten, bei denen die Häuser der Gegner und ihre eigenen in Flammen aufgingen.
„Im Prinzip sind wir alle area boys“, sagt der Theatermacher Segun Adefila, der es „wichtig“ findet, „immer wieder zu fragen: Wieso bin ich dem entkommen?“ Gemeinsam mit seinem Freund Seun Awobajo betreut der 35-Jährige eine Kindertheatergruppe, die jeden Nachmittag im engen Betonvorhof von Awobajos Haus probt. Sie tanzen, spielen Theater, lernen Instrumente. „Footprints Academy“ nennen sie sich. In die Fußstapfen der eigenen Kultur sollen sie treten, vom Wissen der Älteren lernen. Für Segun ist das eine Art Jugendschutz, denn „die Jungen hier sind die nächste Generation von potenziellen area boys“. Gerade proben die Kinder ein Stück über Kindesmisshandlung. Ein zarter Junge tritt auf. „Lasst uns über Kindesmisshandlung sprechen“, deklamiert er. Sein Rücken ist gezeichnet von vernarbten Striemen. „Das Kind weiß, wovon es spricht“, sagt Adefila leise.
„Lagos übt eine Anziehungskraft aus auch auf die Ärmsten“, hatte Adé Bantu gesagt. Das stimmt: Jedes Jahr kommen allein aus Westafrika 600 000 Hoffnungsvolle. Die meisten bleiben, obwohl sie den Aufstieg nie schaffen. Der Türsteher Raphael Godwin, der am Tag im Armenviertel lebt und in der Nacht die Reichen beschützt, gehört da schon zu den Erfolgreichen. Manchmal hindern kulturelle Regeln die Menschen daran, Lagos wieder zu verlassen. Traditionen, die mit den Lebensbedingungen der Verstädterung nicht Schritt gehalten haben. So wie bei der Schneiderin Gladys Onwu. „Ich würde gern zurück nach Hause gehen“, sagt die 45-Jährige, die in Ajegunle ein kleines Atelier betreibt. Das geht aber nicht. In der Tradition ihrer Volksgruppe, der Igbo, trifft sich das Dorf jedes Jahr im August und legt Geld zusammen. Wer nicht kommt, zahlt 5000 Naira Strafe. Frau Onwu zahlt, aber in Lagos verdient sie wenigstens Geld. Und die Strafe ist immer noch billiger als die Fahrt nach Hause und Geschenke für die Großfamilie. Eine Verwandte in Lagos ist für viele Dorfbewohner, was in Deutschland einmal die Tante in Amerika war.