Wenn man die Ereignislosigkeit des durchschnittlichen Heranwachsens, das sich für die Heranwachsenden trotzdem schrecklich ereignisreich anfühlt, einfangen will, dann muss man auf die Pubertät im Dorf schauen.Das Dorf in Petteri Tikkanens Graphic Novel „Blitzkrieg der Liebe“ liegt irgendwo im finnischen Hinterland, und sein Pubertierender ist Eero, ein Junge mit Prinz-Eisenherz-Frisur, der seine Sandkastenfreundin Kanerva auf einmal mit ganz anderen Augen sieht. Wie er und sie, die schon viel reifer ist als Eero, sich annähern und dann wieder verlieren, erzählt Tikkanen in vier Teilen, die jeweils eine andere Grundfarbe haben: von Pink zu Grün zu Blau zu Grau.
Das ist nicht unbedingt subtil, genauso wenig wie die Vogel/Flügel/Flugzeug-Metaphorik, die sich durch das gesamte Buch zieht und wohl auf das „Flüggewerden“ verweist. Aber das macht nichts, denn auch die Pubertät ist ja nicht subtil. Sie schlägt einem immer wieder unvermittelt ins Gesicht. Plötzlich spielt Kanerva nicht mehr mit dir. Plötzlich hast du einen Samenerguss. Plötzlich wächst dir ein Schnurrbart. All das erlebt Eero als so einschneidend, als so großflächig und intensiv gefärbt wie die Bilder, die seine Geschichte erzählen. Alles andere in seinem Leben wird zu Nebengeräuschen.
Und diese Nebengeräusche, das eben doch Subtile, das immer noch da ist, auch in Eeros Leben, ist das eigentlich Schöne an „Blitzkrieg der Liebe“. Da ist die liebenswert-harmlose Mutter, die sich zwar routiniert für das Leben ihres Sohnes interessiert, ihm aber ständig den Rücken zuwendet, weil sie immer gerade Kreuzworträtsel löst/Fotos in ein Album klebt/Kaffee kocht/putzt. Da ist der jähzornige Vater, der zu viel trinkt und dessen Nase in jedem Kapitel eine Spur dunkler schraffiert ist – der Eero aber immer wieder auf seine eigene Art seine Zuneigung zeigt, etwa wenn er ihm hilft, sein Fahrrad zu einer Art Chopper umzubauen. Und da ist vor allem Eeros Großvater, der ein Trauma aus dem Zweiten Weltkrieg mit sich herumschleppt und ständig Pervitin schluckt, um auf dem Damm zu bleiben. Dieser Personenkreis hat in Eeros Leben bisher die größte Rolle gespielt. Nun verschieben sich seine Prioritäten.
Das zweite Schöne ist, dass Tikkanen nicht viele Worte macht. Seitenlang spricht niemand – und wenn, dann knappe Sätze. Ein bisschen scheint jeder in seinem eigenen Schweigen gefangen. Besonders eindrücklich zeigt sich das, als Eero versucht, den Großvater zum Krieg zu befragen. Er stellt Frage um Frage, doch der Großvater schweigt. Oder als Eero schließlich zum Militär muss und dort rennt und schwitzt und strammsteht und im Bett liegt und: schweigt.
Niemand kann dieses Schweigen so recht überbrücken. Eero und Kanerva versuchen es zumindest. Eero findet seine eigene Bildsprache, indem er sich Seiten aus Zeitschriften, Fotos oder Poster aufhängt, die ihm etwas bedeuten. Eine Nachricht an Kanerva verfasst er in Geheimschrift, sie muss von ihr erst entschlüsselt werden. Und als er zum Militär geht, schenkt sie ihm statt warmer Worte einen geflügelten Talisman.
Und drum herum immer: die Provinz. Sich heimlich betrinken aus dem Flachmann. Sich wie ein Biker fühlen auf dem Chopper-Fahrrad. Knutschen unter Bäumen, Lagerfeuer, nackt baden im See. Das fühlt sich gleichzeitig romantisch und trostlos an, so wie die ganze verdammte Provinz-Pubertät. Petteri Tikkanen muss es wissen: Er ist selbst so aufgewachsen, irgendwo im finnischen Hinterland.
Nadja Schlüter, Redakteurin bei jetzt.de, hat eine Schwäche für Coming-of-Age-Geschichten – obwohl sie sich nicht besonders gerne an ihre eigene Pubertät erinnert