Rund fünf Jahre haben die beiden Männer ihre Brieffreundschaft gepflegt. Und meistens waren viel angenehmere Themen Inhalt ihrer Unterhaltungen. "Ich erzählte ihm, wenn ich wieder mal verliebt war, und von meiner Begeisterung an Raumfahrt", sagt der 51-Jährige. In die Umschläge legte er manchmal Bilder von schönen Frauen im Bikini, um seinem eingesperrten Freund eine Freude zu machen. Und der Amerikaner war ein interessierter Gesprächspartner für Wilp, der wegen einer schweren Nervenkrankheit nur mit Hilfe eines Rollators laufen kann.Cary Kerr soll im Juli 2001 seine Nachbarin sexuell missbraucht und anschließend ermordet haben. Knapp zwei Jahre später bezog der damals 37-Jährige eine Einzelzelle im Todestrakt der berüchtigten Polunski Unit in Texas. Bis heute bestehen starke Zweifel daran, ob das Gericht den richtigen Mann verurteilt hat. Schuldig oder unschuldig – Ludger Wilp aus Bottrop war das eigentlich egal, als er zum ersten Mal einen Brief an den Gefangenen geschrieben hat. "Erst ganz zum Schluss habe ich ihn darin gefragt, ob er ein Mörder ist", erzählt Wilp. "Und als er das verneint hat, habe ich es ihm auch geglaubt."
23 Stunden am Tag verbringen die Todeskandidaten von Texas in den Zellen aus Metall, in denen sie kaum ihre Arme ausstrecken können. Völlig isoliert warten sie meist jahrelang auf ihre Hinrichtung oder die Begnadigung. Gnade ist aber gerade in Texas die große Ausnahme. Allein in diesem Bundesstaat starben seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1976 weit mehr als 400 Menschen auf Beschluss von Richtern und Geschworenen. Die Haftbedingungen in Texas gelten dabei als besonders menschenunwürdig. Auf der anderen Seite des Ozeans ist der Bottroper Wilp aber längst nicht der Einzige, der den Männern und Frauen hinter Gittern mit freundlichen Worten Aufmerksamkeit, Hoffnung und Lebensmut geben möchte.
Aufmerksamkeit, Hoffnung und Lebensmut
Ihrem Brieffreund Robert Will, ebenfalls Häftling im Texanischen Staatsgefängnis, schreibt Susan Nowacki nahezu täglich einen Brief. Sie hält Gedanken über ihren Alltag fest und erzählt über Menschen und Aktionen, mit denen sie sich für seine Freilassung einsetzt. Auch in Wills Fall gibt es viele Hinweise, dass er womöglich unschuldig zum Tode verurteilt worden ist. Die meisten Briefe gehen per Email an die Gefängnisaufsicht. Die liest jedes Wort mit und druckt das Schreiben für den Häftling aus. Hin und wieder schickt die 39-Jährige auch einen Brief los, den sie von Hand geschrieben hat. "In solchen Briefen unterhalten wir uns gerne über Philosophie", sagt Nowacki. Der Mann aus Houston sei ein Nietzsche-Fan, sie ein Anhänger der Ideen Schopenhauers. Sie spricht auch über ihre Gefühle, ihre Wut gegen das amerikanische Justizwesen und die Schwermut, die sie befällt, wenn bekannt wird, dass wieder ein Gefangener hingerichtet worden ist. "Dann bekomme ich von Robert meistens Antworten, die mich wieder aufbauen", sagt sie. Und sehr viel Dankbarkeit dafür, dass sich überhaupt jemand für das Schicksal eines einfachen Mannes interessiert.
Viele Gefangene kommen mit der Einsamkeit in den 5,6 Quadratmeter großen Zellen und den Gedanken an den Tod nicht gut zurecht. Zumindest den Todeskandidaten in Texas ist selbst Fernsehen verboten. "Nicht wenige werden wahnsinnig", weiß Nowacki. Im Februar möchte sie ihren Freund zum ersten Mal besuchen, doch sie quält der Gedanke, dass er trotz aller Bemühungen, die Richter oder den Gouverneur von seiner Unschuld zu überzeugen, hingerichtet wird.
Wut gepaart mit Trauer
Diese unvermeidliche Frage hat Petra Herrmann nicht davon abgehalten, sich mit ihrem Brieffreund zu verloben. Am 29. September 2011 will sie Charles "Chuck" Thompson in der Polunski Unit heiraten. Irgendwann war es Liebe, nachdem sie sich elf Jahre regelmäßig geschrieben haben. Ursprünglich wollte sie nur helfen. Es sei klar, dass Chuck aus Notwehr getötet hat, sagt Herrmann, die sich seit vielen Jahren für das Recht des 41-Jährigen einsetzt. Sie ist Vorsitzende des Vereins "Alive" und kämpft in dieser Position auch für alle anderen Schuldigen und Unschuldigen in den Todestrakten weltweit. "Man kann einen Menschen nicht auf eine Tat reduzieren", so ihr Plädoyer gegen die Todesstrafe und für mehr Menschlichkeit. Ihren Einsatz sieht sie als Instrument der Aufklärung, denn viele wüssten einfach nicht, dass die Todesstrafe selbst in einem vermeintlich fortschrittlichen Land wie den USA zum Alltag gehört. Nicht zuletzt seien die Brieffreundschaften ein Mittel der Resozialisierung – Mitleid sei hingegen das Letzte, was die Häftlinge benötigen. "Wir geben den Menschen ein Stück Normalität, die sie sonst nicht erfahren", erklärt Herrmann. "Sie wollen ernst genommen und wie erwachsene Menschen behandelt werden."
Auf der Homepage von "Alive" haben zum Tode verurteilte Häftlinge aus allen Bundesstaaten die Möglichkeit, sich vorzustellen und gewissermaßen um Brieffreunde zu werben. "Jeder, der in Erwägung zieht, sich gegen die Todesstrafe zu engagieren und eventuell einen Briefkontakt zu einem Gefangenen aufzubauen, sollte bedenken, dass die Gefangenen nicht nur Opfer einer gnadenlosen Justiz, sondern in den meisten Fällen auch Täter sind, die zum Teil grausame Straftaten begangen haben", heißt es auf der Homepage des Vereins "Initiative gegen die Todesstrafe" (IGT), wo ebenfalls Kontakte zu Häftlingen zu finden sind. Anfragen kommen trotzdem aus allen Schichten der Bevölkerung, von 16-Jährigen, aber auch von älteren Menschen. Viele Insassen haben sogar gleich mehrere Brieffreundinnen und Freunde. Simone Hillebrand-Dittrich beispielsweise hatte den selben wie der Bottroper Ludger Wilp. "Jeder Mensch braucht doch jemanden um sich herum", sagt die 43-jährige Berlinerin, die sich auch bei der IGT engagiert. "Sonst gehen wir doch ein wie eine Primel." Den Häftling aus der Polunski Unit kannte sie erst seit Oktober – im Mai starb Cary Kerr durch die Giftspritze.
"Unbeschreibliche Wut gepaart mit Trauer", habe sie verspürt, als sie von dem Tod ihres Freundes erfahren hat. Irgendwann möchte sie wieder einem Häftling schreiben. Aber nicht in Texas, wie sie sagt. "Ich würde es wahrscheinlich nicht aushalten, noch mal einen Freund zu verlieren."
Andreas Pankratz ist Volontär der Bundeszentrale für politische Bildung.