Das Neue ist ein Dauerthema in der Popkultur. Seien es gesellschaftliche Umstürze, persönliche Neuanfänge, eine neue Liebe oder ein neuer, krasser Sound, der alles Vorherige wegfegt, die Sehnsucht nach dem Neustart ist in der Heavy Rotation des Pop. Zwölf Songs, die vom Glück des Neuanfangs handeln – und auch mal vom Zwang, sich ständig neu erfinden zu müssen.
Gil Scott-Heron – The Revolution will not be Televised (1971)
So geht es nicht weiter, dachte sich Gil Scott-Heron. Glotzen, Kiffen, Abhängen – so kommt die Bürgerrechtsbewegung nicht nach vorne, und so wird auch die Rassentrennung nie überwunden. 1970 schrieb der US-amerikanische Musiker und Dichter das agitatorische Gedicht, das sich an das schwarze Amerika richtete und es zu einem neuen politischen Bewusstsein in den konservativen Nixon-Jahren aufrief. Ein Jahr später nahm er den gleichnamigen Song mit seiner Band auf, der durch den markanten Sprechgesang einen maßgeblichen Einfluss auf den Hip-Hop haben sollte.
John Lennon – (Just Like) Starting Over (1980)
Selbst ein Superstar braucht mal eine Auszeit. Mitte der 70er Jahre, fünf Jahre nach der Trennung der Beatles, hörte John Lennon weitgehend auf, Musik zu veröffentlichen und zog sich ins Privatleben zurück. Er war gerade Vater geworden und wollte sich um seinen Sohn Sean kümmern. „(Just Like) Starting Over“ sollte sein Comeback werden. Es wurde ein Abschied: Anderthalb Monate später wurde Lennon vor seiner Wohnung in New York erschossen. Sein letzter Song, der stark an seine musikalischen Wurzeln in den 1950er-Jahren erinnert, erreichte den ersten Platz in zahlreichen internationalen Hitparaden.
Orange Juice – Rip it up and start again (1982)
In dem Song der Glasgower Band von Edwyn Collins geht es um eine zweite Chance nach einem vermasselten Date – aber irgendwie auch ums große Ganze der damaligen Musikwelt: um den steilen Sturz des Punk und um den musikalischen Neuanfang danach. Der Titel steht sinnbildlich für den Post-Punk, der nicht weniger radikal, aber musikalisch vielfältiger und interessanter war, weswegen die Phase von dem Musikjournalisten Simon Reynolds als der wahre musikalische Umbruch gefeiert wird. Entsprechend hat er sein berühmtes Buch nach dem Song benannt, der übrigens auch ein echter Pionier war. Zum ersten Mal wurde eine Bassline mit einer Roland TB 303 aufgenommen, jenem Synthesizer, der einige Jahre später den Sound von House und Techno prägen sollte.
Fehlfarben – Ein Jahr (Es geht voran) (1982)
Es gibt wenige Songs, die so dermaßen unterschiedlich interpretiert wurden wie diese Hymne der Fehlfarben. Mit dem Aufbruchstimmung verbreitenden Slogan „Geschichte wird gemacht“ klingt der schneidige Text erstmal affirmativ bis agitatorisch. Die Fehlfarben, die aus der Düsseldorfer Punkszene stammen, wurden damit zur Lieblingsband der Linken und Hausbesetzer. Eine Szene, die den Punks jedoch eher suspekt war. Als die Neue Deutsche Welle ihre Spaßoffensive startete, klang der funkig-treibende Song plötzlich eher nach der geistig-moralischen Wende, die Helmut Kohl 1982 ausrief. Was die Fehlfarben genau meinten, ist unklar. Jedenfalls lässt sich die Passivkonstruktion „Geschichte wird gemacht“ so deuten, dass einem die Geschicke eher entgleiten als das man sie selbst gestaltet – Geschichte ist das, was die anderen machen.
David Bowie – Absolute Beginners (1986)
Der Ch-ch-Changes-Bowie ist natürlich eine Kapazität, wenn es um Neuanfänge geht. Praktisch mit jedem neuen Album legte er sich ein neues Image zu. Vom einsamen Astronauten über den blasierten Aristokraten und überdrehten Rockstar bis zum grell geschminkten Transvestiten reichte sein Repertoire. Eines seiner erfolgreichsten Stücke heißt dann auch: „Absolute Beginners“.
Roxy Music – Re-Make/Re-Model (1972)
Der erste Song auf dem ersten Album von Roxy Music – und gleich die ganz große Ansage. Mit einem wilden Mix aus Collagen, Zitaten und Dissonanzen läuteten Roxy Music das Zeitalter des Glamrock ein und schrieben eine Hymne für den Aufbruch in eine neue Ästhetik. Der stagnierenden Rockmusik verpassten sie damit eine neue Richtung.
Peter Fox – Alles neu (2008)
Dass es auch etwas Zwanghaftes haben kann, wenn man sich immerzu neu erfinden soll, das schwingt bei Peter Fox in „Alles neu“ mit. Peter Fox hat die Sehnsucht, aber auch den Druck des Neuanfangs in einen Song gepackt. So als Künstler muss man ja abliefern, immer wieder mit etwas Neuem rüberkommen, sonst rutscht man durchs Raster. So ist der Song halb Ausbruchsfantasie, halb gehetztes Künstlerporträt in der Update-Kultur.
will.i.am – It's a New Day (2008)
Barack Obamas Wahlkampf im Jahr 2008 war nicht nur der erste, in dem eine Social Media Kampagne eine maßgebliche Rolle gespielt hat, auch die Popkultur hatte eine wichtige Stimme. Zahlreiche Musiker und Künstler sprachen sich für Obama aus. Der Kampagnen-Clip „Yes we can“ stammte von Black Eyed Peas Sänger will.i.am. Kurz nach der Wahl Obamas veröffentlichte will.i.am den Song „It's a New Day“, der mit dem ganzen Pathos eine neue Zeit herbeirappt.
Kendrick Lamar – King Kunta (2015)
Aber wer hätte da gedacht, dass am Ende zweier Legislaturperioden des ersten afroamerikanischen US-Präsidenten ein Song wie „King Kunta“ noch so sehr einen Nerv treffen könnte? Mit „King Kunta“ erinnert der Rapper Kendrick Lamar an die Figur eines Sklaven aus dem Roman „Roots“ von Alex Haley, dem ein Fuß abgehackt wurde, weil er versuchte zu fliehen. Wurde Lamars Album To Pimp a Butterfly als Statement gegen Polizeigewalt und Diskriminierung gehört, ist „King Kunta“ einer der großen Hits der #blacklivesmatter-Bewegung.
Lord Kitchener - London Is The Place For Me (1948)
Voller Optimismus dagegen singt Lord Kitchener aus Trinidad von seinem persönlichen Neuanfang im regnerischen England. Ende der 40er-Jahre kam der Calypso-Sänger mit den ersten Einwanderern aus der Karibik nach London. Voller Stolz, im „Mutterland“ des britischen Empires angekommen zu sein, berichtet er begeistert von seinen ersten Eindrücken – spätere Songs von ihm und anderen Musikern aus der Karibik haben nicht mehr das gleiche Euphorie-Level. Sie erzählen vom schwierigen Alltag in der neuen Heimat und der Diskriminierung, die sie erfahren.
Nina Simone – Feeling good (1965)
Eigentlich kein politischer Song, aber wenn Nina Simone ihn singt, die Grande Dame der US-Bürgerrechtsbewegung, dann ist das Private natürlich auch politisch. Den Neuanfang, um den es geht, kann man auf zwei Ebenen deuten. Einmal biografisch: Simone wurde trotz ihres großen Talents von der renommierten Julliard-School abgelehnt (wohl wegen ihrer Hautfarbe) und trotzdem eine erfolgreiche Künstlerin. Zu der Zeit, als sie diesen Song einspielte, ging es mit ihrer Karriere steil bergauf. Und dann schwingt da noch der gesellschaftliche Aufbruch der Civil Rights Era mit, die nach der „I Have a Dream“-Rede von Martin Luther King in die entscheidende Phase ging. So ist „Feeling good“ zwar kein Protestsong wie „Mississippi Goddam“, wo es um die damaligen Anschläge auf Afroamerikaner in den Südstaaten geht, aber eine frühe Hymne des Empowerment.
Bob Dylan – The Times They Are a changing (1964)
Der Promi unter den Protestsongs. Kaum einer hat die Sehnsucht nach politisch-gesellschaftlicher Veränderung ergreifender herbeigesungen als Bob Dylan und damit den Hoffnungen der US-amerikanischen Gegenbewegung der 60er-Jahre eine Stimme gegeben. Vor allem zeigt er das Selbstbewusstsein der jungen Generation. 1965 waren 50 Prozent der Amerikaner unter 25. Zwei Drittel von ihnen besuchten das College oder die Uni. Die Studentenbewegung drängte in die Mitte der Gesellschaft und Dylan gab ihr ihre Hymne.
Helly Luv – Revolution (2015)
Helly Luv ist der Bling-Bling-Star des kurdischen Frühlings. Mit High Heels, dickem Make-up, und einem Gurt mit goldenen Patronen singt die Kurdin Durchhalteparolen im Kampf gegen den IS. Im Video zum Song, in dem Helly Luv zwischen Panzern tanzt und ein Schild hochhält, auf dem „Stop the violence“ steht, hört man immer wieder Schüsse. Gedreht wurde in Hörweite der Front.
K.I.Z – Hurra, die Welt geht unter (2015)
So ein Weltuntergang kann ja durchaus lauschig sein. Finden jedenfalls die Rapper von K.I.Z. Die Apokalypse stellen sie sich als Beginn eines neuen Paradieses vor. Alle laufen nackt durch die Straßen, grillen in den Ruinen der Deutschen Bank, Geld gibt’s keins, ein Goldbarren ist so wertvoll wie ein Ziegelstein, und Äpfel schmecken nach Äpfeln, weil Nestlé auch nicht mehr ist.
Foto: Mitch Epstein, Rosy, Meghraj Cabaret #2, Bombay 1984, Courtesy of Galerie Thomas Zander, Köln