Europa ist ein Ei. Zumindest hier am Rond-Point Schuman, im Zentrum des Brüsseler Europaviertels. Hier wächst Europa langsam in die Höhe. Arbeiter werkeln am neuen Ratsgebäude, dort sollen künftig Europas Staatschefs ihre Gipfel abhalten. In der Mitte grüßt schon ein großes Oval aus Stahl. Das Glas und die Fassade sollen bald kommen. Willkommen im Chaos, willkommen auf der Baustelle Europa.
Gleich neben dem Ei, im fünften Stock des alten Ratsgebäudes, empfängt Luuk van Middelaar die Besucher. Sein Büro ist eng, an der Schranktür hängt ein altes Cover des britischen Nachrichtenmagazins „The Economist“. Kanzlerin Angela Merkel ist darauf zu sehen, mit grimmigem Blick und in Kampfmontur. Hinter ihr die Akropolis samt Abendrot und Militärhubschrauber. „Acropolis now“ lautet der Titel – in Anlehnung an den Vietnamkriegsfilm „Apocalypse Now“.
Es waren dann ja auch heftige Kämpfe geworden rund um Griechenland und den Euro. Van Middelaar hat die Debatten aus nächster Nähe verfolgt. Der 40 Jahre alte Niederländer sucht den richtigen Ton für Europa, er ist seit 2010 Redenschreiber von Ratspräsident Herman Van Rompuy. Dessen Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU im vergangenen Dezember stammt von ihm. „Bei einer guten Rede“, verrät er, „schlagen die Worte ein Band zwischen Redner und Publikum, zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit.“ Genau an diesem unsichtbaren Band arbeiten sie in Brüssel.
Politik in der Champions League
Luuk van Middelaar ist eher zufällig bei der EU gelandet. Er hat Geschichte und Philosophie studiert und als Student Kolumnen in niederländischen Zeitungen geschrieben. Die gefielen dem niederländischen EU-Kommissar Frits Bolkestein so gut, dass er ihn kurzerhand zum Vorstellungsgespräch einlud. „Ich wusste so gut wie nichts über die Arbeitsweise der EU“, gesteht van Middelaar. Den Job als Bolkesteins Berater hat er dennoch bekommen. Seine Doktorarbeit „Passage nach Europa. Wie ein Kontinent zur Union wurde“ hat später den Europäischen Buchpreis erhalten. Kein Wunder, dass Van Rompuy ihn in sein Team holte. Auf die Frage, was den Reiz ausmacht, für Europa zu arbeiten, sagt van Middelaar nur: „Das ist Politik in der Champions-League-Klasse.“
Europas höchste politische Spielklasse ist ein undurchschaubarer Ort: Rund 45.000 Beamte arbeiten hier an Europas Zukunft. Aber außerhalb Brüssels wird das Niveau gern verkannt. Schon der Soziologe Max Weber hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor dem Beamten als „Fachmensch ohne Geist“ gewarnt. Der österreichische Autor Robert Menasse notiert: „,Brüsseler Bürokratie‘ ist heute der Begriff, unter den immer wieder generell subsumiert wird, was im je Einzelnen Kritik oder Ressentiment, Wut oder Verachtung auslöst.“
Dieses Brüssel will ja immer irgendetwas von den Menschen. Es hat Europas Studierenden den Bachelor beschert, Europas Städten die Feinstaubrichtlinie, und gegen die Kraft der Natur hat es Brüssel sogar geschafft, die Gurke gerade zu biegen. Das Problem ist nur: Dieses „Brüssel“, über das sich ganz Europa gern erregt, gibt es eigentlich gar nicht. Brüssel ist eine Stadt in Belgien, die EU in Brüssel aber, das sind der Rat, über den die Mitgliedsstaaten versuchen, ihre nationalen Interessen zu verteidigen, die Kommission als Europas gemeinschaftliche Verwaltung und das Europäische Parlament als direkt gewählte Vertretung des Volkes. Die drei Institutionen ringen um Einfluss und Macht im Gebilde Europa. Das Ergebnis: Von der genialen Idee Europa bleibt außerhalb Brüssels nur ein Bild des Chaos übrig. Und darunter leidet vor allem das Image von Europas Beamten.
Es ist auch nicht einfach zu begreifen, dieses Europa. Dazu reicht ein Blick in den Maschinenraum. Im fünften Stock des Ratsgebäudes, auf derselben Etage, auf der auch Luuk van Middelaar arbeitet, liegen zwei unscheinbare Konferenzräume. Dort tagen einmal in der Woche die 27 Vertreter der Mitgliedsstaaten. Es geht um Saatgut, CO2-Grenzwerte für Autos und darum, wie viele Firmen künftig auf den Rollfeldern von Europas Flughäfen die Jets abwickeln. Es ist das Kleingedruckte in Europas Verträgen. Richtig sexy klingt das nicht. Und doch schicken die Staaten ihre besten Diplomaten. Es geht um nationale Interessen, und es geht um den Alltag von Millionen von Menschen.
Deutsche oder Bulgarin? Wie wär’s mit Europäerin?
„Wir werden allzu oft als Technokraten verkannt“, sagt die Kommissionsbeamtin Mina Andreeva, 30. Wer zu ihr will, muss Luuk van Middelaar und das Ratsgebäude zurücklassen, dort grüßen zum Abschied vor dem Aufzug im Erdgeschoss die Fahnen der 27 Mitgliedsstaaten. Drüben, auf der anderen Seite der Straße, flattert vor dem Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der Europäischen Kommission, keine Nationalflagge im Wind, sondern die Europafahne. Und das gleich 27 Mal.
Mina Andreeva sitzt unten im Pressecafé im Erdgeschoss des Berlaymont, gleich nebenan erklärt die EU-Kommission jeden Tag um Punkt zwölf Uhr ihre Politik. Es ist eine Art europäisches Mittagsgebet. Andreeva ist im bulgarischen Sofia geboren, im rheinischen Köln aufgewachsen, sie hat im niederländischen Maastricht European Studies studiert und im schottischen Edinburgh einen Master in Jura gemacht. „Europa und seine Vielfalt waren immer Bestandteil meines Lebens. Ich habe das immer als Chance gesehen“, sagt Andreeva. Was lag da näher, als für die EU tätig zu werden? Andreeva arbeitet seit 2009 für die EU-Kommission und ist seit 2012 Sprecherin von Justizkommissarin Viviane Reding. Für die erklärt sie Details zur Frauenquote oder zum Datenschutz im Internet im Fall von Facebook, Google & Co. Und wenn man sie fragt, ob sie nun Deutsche sei oder Bulgarin, antwortet sie nur: „Ich bin Europäerin.“ In Deutschland habe sie eine gewisse Liebe zum Detail schätzen gelernt, in Bulgarien eine gewisse Lockerheit. „Obwohl“, sagt Andreeva, „das kann auch die rheinländische Gelassenheit sein.“
Europa wächst langsam zusammen. Und wer auf Andreevas Biografie blickt, merkt rasch: Die Generation Erasmus erobert Europa. Früher hieß es scherzhaft: „Hast du einen Opa, dann schick ihn nach Europa.“ Längst aber wird das Buchhaltertum in Europas Amtsstuben zurückgedrängt. Europas neue Riege ist selbstverständlich mehrsprachig, sie hat selbstverständlich im Ausland studiert und erlebt Europa längst als grenzenlosen Raum. Mal eben zum Geburtstag eines alten Studienfreunds nach Dublin, zum Liebsten nach Barcelona, zur Party nach Berlin. Europas junge Elite ist mobil, Europa ist für sie eine Chance. Die Generation Erasmus hat sie ergriffen.
So wie Helene Banner, 28. Die deutsche Mitarbeiterin der EU-Kommission hat sich früh für Europa entschieden und in einem deutsch-französischen Studiengang in Münster und Lille Politik studiert. Ein Projekt, das einst Kanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Präsident Jacques Chirac angeschoben haben. Und ein Projekt, das zeigt: Europas Bildungsprogramme wirken.
Erasmus für Erwachsene
Sie kam 2009 als Praktikantin zur EU-Kommission und ist geblieben. Jetzt arbeitet Banner im Stab von EU-Handelskommissar Karel De Gucht. Der ist heute in Indien, morgen in Südkorea und demnächst ganz viel in Amerika. Denn der Belgier De Gucht wird bald über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA verhandeln. Von einem Markt mit 800 Millionen Menschen schwärmen Ökonomen. Helene Banner sagt: „Ich bin noch zu DDR-Zeiten in Schwerin geboren. Für mich war Europa immer ein emotionaler Moment.“ Und wie ist das, wenn die Emotion auf die Realität trifft? „Es ist Verwaltung“, antwortet Helene Banner. „Aber es ist immer noch eine besondere Verwaltung.“
Lob bekommen die Beamten aus der Brüsseler Champions League selten. Die Europamacher kämpfen gegen ein Zerrbild. „Wir werden eben durch 27 nationale Linsen betrachtet“, sagt Mina Andreeva, ihr Fazit: „Europa fehlt ein Gesicht.“
Luuk van Middelaar ist Redenschreiber, der Mann ist Philosoph und Historiker, der sollte doch wissen, wie sich die EU besser vermitteln lässt. Auf die Frage greift van Middelaar zu Bleistift und Papier und malt drei Kreise. Einen kleinen, tiefschwarz. „Das ist Brüssel, die Institutionen.“ Ein zweites Rund drumherum. „Das sind die Mitgliedsstaaten.“ Das größte Rund schließlich ist der Kontinent. „Die Schnittmenge“, sagt van Middelaar, „ist die gemeinsame Geschichte. Und die müssen wir vermitteln.“
Helene Banner hat eine ganz eigene Sicht auf die Arbeit für die EU. „Brüssel“, sagt sie, „das ist Erasmus für Erwachsene.“