Ich verbringe die elfte Klasse in der Portsmouth Abbey School, Rhode Island, einem katholischen Internat. Hier kann man schön leben - solange man anständig bleibt. Das macht einem die Schulverwaltung schnell klar. Nachdem ich mich beworben hatte, kam gleich zusammen mit der Zusage das Students' Handbook mit einer Notiz: Es sei sehr wichtig, das zu lesen und den Inhalt auch im Gedächtnis zu behalten. Der Inhalt: Schulregeln. Zuerst die Kleiderordnung, allgemeine Regeln wie Lernzeiten, dann zehn Seiten über Wahrheit und Ehre. 

Manche hier hätten das Handbuch vielleicht genauer lesen sollen. Wie Simon, der acht Strafstunden in der Cafeteria abzuarbeiten hat, weil er sich beim Rauchen auf dem schuleigenen Tennisplatz hat erwischen lassen. Alle seine Freunde werden ihn auslachen oder zumindest einen schlechten Witz reißen, wenn sie ihn sehen. Oder Leah. Sie hat Campusarrest und muss Sozialstunden machen, weil sie einen Pullover gestohlen hat. Natürlich gab es schon Schlimmeres: Vor vier Jahren hat jemand zwei Schüler beim Sex unter der Treppe im Schulhaus gefilmt und das Video ins Internet gestellt. Schulverweis, klar. Die Lehrer sagen, es war skandalös. Die Schüler finden es lächerlich.

Schüler, die gegen Schulregeln verstoßen, sind allerdings nicht gerade beliebt. Als ich einmal Ärger mit der Schulverwaltung hatte, weil ich meine Matheklasse geschwänzt hatte, habe ich von meinen Mitschülern manch bösen Blick zugeworfen bekommen. Ganz schlimm erwischt es diejenigen, die abschreiben. Nicht nur, dass auf jedem Test eine kleine Zeile für die Ehrenunterschrift steht, mit der man verspricht, den Test ganz allein und ohne jegliche Form von Betrug bestritten zu haben; wer abschreibt, wird verpetzt und meistens von der Schule geworfen. Für solche Fälle hat die Schule ihren hauseigenen Zerberus, der über die Schulordnung und deren Einhaltung wacht: ein Riese, Trainer der Männer-Basketballauswahlmannschaft. 

Man kann nur hoffen, dass man nicht eines Tages in sein Büro gebeten wird. Von außen wirkt die Abbey wie das Musterbeispiel einer akademischen Einrichtung, besucht von jungen, aufstrebenden, frommen, keuschen Schülern. In der Tat zahlen einige Eltern viel Geld, um ihre ungehorsamen Kinder, bisweilen gegen deren Willen, für ein Jahr oder länger hierher zu schicken, weil sie glauben, dass ihnen hier Disziplin und Respekt vermitteln werden. Meine Zimmernachbarin ist hier, weil sie zweimal von zu Hause weggelaufen ist. Und im Footballteam ist ein Junge, der Probleme mit Drogen hatte. Die einzige Regel, die sich die Schüler selbst gesetzt haben, lautet: Nicht erwischen lassen. 

Außerdem weiß jeder, dass die Wochenenden die beste Möglichkeit für Zigaretten, Alkohol und Sex bieten Wer will, kann sich also nach Lust und Laune vom braven Alltag erholen, um einen Tag später wieder den artigen Schüler zu mimen, respektvoll, diszipliniert, den Kopf ständig in den Büchern - und in Gedanken vielleicht schon wieder beim nächsten Wochenende. Vielleicht ist es aber gar nicht so schlecht, dass ich hier zum Anstand "gezwungen" werde, dann hätte mich die Schule doch tatsächlich was für das Leben gelehrt. Aber die Lehrer in meiner Schule in Deutschland muss ich in einem enttäuschen: Wenn mich jemand in einer Klausur um Rat fragen wird oder ich jemanden spicken sehe, werde ich ihn sicher nicht verpetzen.