Als der Kleinbus mit quietschenden Reifen vor der Mutua-Metzgerei in Nairobi zum Stehen kommt, weht eine feine Staubschicht durch die offene Flügeltür und lässt sich langsam auf der Edelstahltheke nieder. Dumpfe Reggae-Klänge aus dem Bus unterbrechen die junge Kundin vor der Auslage, die gerade für 200 kenianische Schilling (etwa 1,70 Euro) Rindfleisch kaufen will. Unbeeindruckt wiederholt sie die Bestellung, diesmal mit lauterer Stimme. Der Verkäufer reicht das eingewickelte Fleisch an die Kassiererin weiter. Die Kundin greift in ihre Handtasche und zieht ihr Mobiltelefon heraus. Auch die Kassiererin tippt etwas in ihr Telefon. Dann verschwinden das Rindfleisch und das Telefon in der Tasche der Kundin. Die Nächste, bitte.
Hinter der Kassiererin hängt ein grünes Schild mit einer Nummer an der Wand. Das Geschäft bietet den bargeldlosen M-Pesa-Service an, einen Geldtransferdienst, der von Mobiltelefon zu Mobiltelefon funktioniert und vom kenianischen Mobilfunkanbieter Safaricom betrieben wird. „M“ steht für „mobil“, „Pesa“ bedeutet „Geld“ in Suaheli, nach Englisch die zweite Amtssprache Kenias.
Wie in den meisten Ländern im subsaharischen Afrika lebt auch in Kenia die Mehrheit der Bevölkerung als Bauern auf dem Land. Die Jungen zieht es auf der Suche nach Ausbildung und Jobs in die Städte, in denen es Strom, fließendes Wasser und Banken gibt. Bis heute kennen viele Menschen in den Dörfern nichts davon. Wenn die Kinder ihre Eltern auf dem Land finanziell unterstützen wollten, mussten sie früher abenteuerliche und ungewisse Wege gehen. Sie gaben einem Nachbarn oder Busfahrer, der zufällig im Dorf vorbeikam, Bargeld mit. Oder sie schickten Geld per Postanweisung, was Wochen dauern konnte, wenn das Geld überhaupt ankam. Möglich war das eh nur, wenn der Empfänger ein Postfach besaß. Was kaum häufiger vorkam als der Besitz eines Bankkontos.
2007 wurde alles anders. Damals verfügten bereits mehrere Millionen Kenianer über ein Handy mit einer Safaricom-Nummer, die plötzlich zum Bankkonto wurde. Die Menschen konnten nun Geld auf ihr Mobiltelefon laden und es an andere Safaricom-Kunden versenden. Innerhalb von Minuten kam es beim Empfänger an, der darüber per SMS informiert wurde. Der konnte es weiterschicken oder sich bei einem M-Pesa-Agenten bar auszahlen lassen. Die Transaktionsgebühr richtet sich bis heute nach der Höhe der zu versendenden Summe und liegt bei etwa 95 Euro-Cent für 600 Euro, der höchsten Transaktionssumme. Die niedrigste Gebühr beträgt weniger als ein Cent.
Zwei Wochen nach der Einführung hatte Safaricom, das zu 40 Prozent Vodafone und zu 35 Prozent dem kenianischen Staat gehört, knapp 20.000 aktive M-Pesa-Nutzer, heute sind es 22 Millionen, die bei 94.000 Agenten – oft kleine Geschäftsleute wie Kioskbesitzer – landesweit Geld deponieren oder abholen. Mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung in Kenia nutzt M-Pesa.
Ursprünglich war das bargeldlose Bezahlsystem für die Mikrofinanz-Industrie entworfen worden, also um kleine Kredite auszuzahlen und Rückzahlungen zu ermöglichen. Doch schnell wurde sein Potenzial für die breite Öffentlichkeit deutlich. Die Kenia-
ner bekamen einen schnellen, sicheren und jederzeit verfügbaren Geldtransfer geboten, ohne Schalteröffnungszeiten und Schlangestehen. Die kontolose Bevölkerung auf dem Land katapultierte sich damit ohne Umweg in die digitale Epoche von heute.
Der Geldtransfer von einem Mobiltelefon zum anderen war der Anfang. Inzwischen kann ein Nutzer Strom- und Wasserrechnungen bezahlen, an einem Geldautomaten Bargeld abheben, Flugtickets kaufen, Konzertkarten bestellen, den Taxifahrer bezahlen sowie einen Kleinkredit aufnehmen, um etwa eine Solaranlage zu kaufen und so zum ersten Mal Strom im Haus zu haben. Eltern überweisen Gebühren an die Schulen ihrer Kinder, Mieter zahlen ihre Miete. Als die Al-Shabaab-Miliz im April letzten Jahres die Garissa-Universität im Osten Kenias überfiel und 148 Menschen tötete, richtete Safaricom eine M-Pesa-Spenden-Nummer für die Verletzten und Hinterbliebenen ein. Und nicht zuletzt hilft M-Pesa beim Sparen: Je nach Summe gibt es bis zu vier Pro-
zent Zinsen.
„Ich gehe gar nicht mehr zur Bank“, sagt Billy Warero. Der 33-Jährige arbeitet in Nairobi bei einer Telekommunikationsfirma. Die Stromrechnung, das Kabelfernsehen, seine Einkäufe sowohl im Supermarkt als auch online – alles erledigt er über
M-Pesa. Sein Gehalt landet noch auf dem Bankkonto, aber auch das kann er übers Handy auf sein M-Pesa-Konto überweisen. „Andererseits ist
M-Pesa verführerisch, denn damit ist das Geld auch schnell ausgegeben“, sagt er.
Zwischen April 2015 und März 2016 wurden laut Safaricom Transaktionen im Wert von 46 Milliarden Euro getätigt. Das wären 85 Prozent der gesamten kenianischen Wirtschaftsleistung. M-Pesa ist mittlerweile unter anderem auch in den ostafrikanischen Ländern Tansania, Uganda und Ruanda verfügbar, aber auch in Ägypten, Afghanistan und Indien. In Malawi benutzen über zwei Millionen Menschen ein ähnliches System. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Per-spektive handelt es sich bei diesem Phänomen um ein sogenanntes Leapfrogging, also um einen Bocksprung. Anstatt ein Bankensystem wie beispielsweise in Deutschland zu etablieren, wird ein gesamter Entwicklungsschritt übersprungen und durch eine Innovation ersetzt. Eine Innovation, die dazu beiträgt, Kenia zu einem modernen Land zu machen.