Als ich noch Student in Washington D. C. war, wohnte ich in einem ruhigen Viertel im Nordosten der Stadt. Das einzige wichtige Gebäude, an dem ich auf meinem Weg frühmorgens zur Uni vorbeiging, gehörte dem sogenannten Department of Homeland Security, einer Behörde, die nach den Anschlägen des 11. September 2001 gegründet worden war. Dagegen war mein Weg zur Ludwig-Maximilians-Universität in München, an der ich ein Austauschjahr verbrachte, gesäumt von geschichtsträchtigen Häusern: erst vorbei an der Feldherrnhalle, wo bayrische Soldaten 1923 Hitlers Putschversuch vereitelten, weiter zur barocken Theatinerkirche aus dem 17. Jahrhundert und schließlich durch den Hofgarten, den sich der Kurfürst 1613 anlegen ließ. Das Gefühl, auf Schritt und Tritt durch die Jahrhunderte zu wandeln, hatte ich nicht nur in München. Eine Kommilitonin, die ein Auslandssemester in Paris verbrachte, formulierte es so: Europa sei ein großartiger Ort, um ein Gefühl für Aufstieg und Niedergang der Imperien zu bekommen.
Amerikaner sind von der immer noch allgegenwärtigen Geschichte in Europa fasziniert – nicht zuletzt, weil es auch ihre eigene ist. Zig Millionen Amerikaner haben Vorfahren aus Deutschland, England, Frankreich oder Irland – die Bande, die dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg vorausgingen, sind nicht vergessen. Es ist daher fast ein Gefühl der Zugehörigkeit, das einen als Amerikaner in Europa durchströmt. Besonders, wenn der eigene Nachname erstmals so ausgesprochen wird, wie es die Urgroßeltern einst taten, bevor sie in Ellis Island ankamen – der legendären Einwandererinsel von New York.
Aus der Sicht vieler Amerikaner hat Europa immer noch mehr Raucher als Einwohner
Seit Jahrzehnten ist Europa einer der wichtigsten Verbündeten der USA. Diese transatlantische Beziehung war schon immer mehr als nur Politik oder das regelmäßige Treffen der Wirtschaftsminister, die das nächste Freihandelsabkommen beraten. Europas wahre Anziehungskraft für Amerikaner ist seine Kultur. Bittet man die Menschen in den USA, Europa mit einem Wort zu beschreiben, hört man Begriffe wie „kultiviert“, „romantisch“ und „historisch“. Ein anderes Attribut, das uns in den Sinn kommt, ist „vielfältig“: Wenn man in einem riesigen Land aufgewachsen ist, in dem über Zeit- und Klimazonen hinweg dieselbe Sprache gesprochen wird, kann man die Vielfalt Europas kaum begreifen: dass man mit dem Interrail-Ticket in wenigen Stunden an völlig verschiedene Orte reisen kann – mit eigenen Sprachen, anderen kulturellen Eigenheiten. Eben noch hat man an den Tischen des Münchner Oktoberfests riesige Bierhumpen gestemmt, da bestaunt man schon die stocksteifen Gardisten vor dem Buckingham Palace oder die Ausgrabungen im Forum Romanum. Diese Vielfalt suchen wir Amerikaner in Europa, aber nicht nur. Das andere ist die Kraft, die in der Kontinuität liegt: Das Wissen, dass Europa nicht dem ständigen Wandel der Zeit unterliegt wie die Skylines unserer Städte, beruhigt viele Amerikaner. Wir sind vielleicht nicht gerade bekannt für unsere geografischen Kenntnisse oder unsere Leidenschaft für andere Sprachen, aber wir wissen die Historie zu schätzen. Zu Hause gibt es einfach nicht allzu viel davon. Nach europäischen Maßstäben befinden sich die USA in der Pubertät.
Während wir unsere Speicherkarten mit den Erinnerungen einer Europareise füllen, gibt es aber auch einige Dinge, die uns Amerikanern fremd sind. Meistens sind es eher Kleinigkeiten, die uns daran erinnern, dass wir in der Fremde sind. In der Sekunde, in der ein Amerikaner seinen Fuß auf europäischen Boden setzt, ist das Erste, was er bemerkt, nicht die atemberaubende gotische Kathedrale oder das jahrhundertealte Schloss – nein, es ist der Rauch, der uns überall entgegenwabert. Wo man auch ist, jemand mit einer Zigarette ist schon da und bläst den Qualm in unsere Richtung. Ja, ich habe den Kampf für das Rauchverbot in vielen Ländern mitbekommen, und dennoch: In den Augen eines Amerikaners gibt es in Europa immer noch mehr Raucher als Einwohner.
Eine andere Kleinigkeit, die uns immer wieder erstaunt, sind die europäischen Dimensionen. Es gibt kein „Super Size“, kein „XXLarge“, alles ist kleiner und kompakter. Es gibt hier Autos, die so lang sind wie breit, die aussehen, als passten sie in den Kofferraum eines amerikanischen Jeeps. Und dann fahren sie auch noch auf Straßen, die kaum breiter sind als die Gehsteige. Das Gleiche gilt für die Menschen. Selbst sie sind weniger voluminös. Sogar in einer Stadt wie Prag, wo sich die Menschen fast ausschließlich von Schweinebraten, Knödel und Bier zu ernähren scheinen, bleibt die Bevölkerung erstaunlich schlank. Wie geht das?, fragen sich Amerikaner.
Und dann wäre da noch die europäische Politik. Ein Konzept, das den meisten Amerikanern noch fremder ist als Zigaretten und Smarts. Dass der Staat so viele Wohltaten bereithält! In den USA ist die Meinung weit verbreitet, dass alle Europäer eh Sozialisten sind und sich schlichtweg nur die Zeit vertreiben bis zur Auferstehung von Karl Marx.
Immerhin: Für die Politiker in Washington besteht Europa nicht mehr nur aus Deutschland und Frankreich. Man sorgt sich um die wirtschaftliche Stabilität des ganzen Kontinents – auch weil man darin, trotz einer gewissen Hinwendung zu Asien, weiterhin einen wichtigen Partner sieht. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush prägte 2003 den Begriff von „Old Europe“ und meinte damit verächtlich die vermeintliche Fortschrittsfeindlichkeit. Davon ist schon lange nicht mehr die Rede.
Unser Autor ist Mitarbeiter im Berlin-Büro der „New York Times“