Wegsperren, drohen, foltern und zensieren: Um das freie Wort zu unterdrücken, ist den Mächtigen fast jedes Mittel recht. Moses Okile Ebokorait hat das selbst erlebt. Einst arbeitete er als Journalist in Uganda, recherchierte zu Korruption in der Regierung. Während er sich 2009 für eine Schulung in Deutschland aufhielt, nahmen Männer des ugandischen Militärgeheimdienstes seine Kollegen fest. Sie wollten wissen, wo Ebokorait ist. Freunde und Kollegen schrieben ihm daraufhin Mails, warnten ihn, nach Uganda zurückzukehren. Aus Angst blieb Ebokorait in Deutschland.
Die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) half ihm bei seinem Asylgesuch, unterstützte ihn in den ersten Monaten in Deutschland. Und sie gab ihm das, was Journalisten am meisten im Exil vermissen: eine Plattform, auf der er seine Artikel veröffentlichen kann. 2013 gründete ROG den Blog journalistsinexile.com. Damit erhalten Reporter, die in Deutschland im Exil leben, die Möglichkeit zu veröffentlichen.
Die Mutterorganisation von ROG, Reporters sans frontières (RSF) mit Hauptsitz in Paris, wurde 1985 in Montpellier ins Leben gerufen und setzt sich für Journalisten in Not ein. 1994 gründeten 40 Journalisten in Berlin den deutschen Ableger. Die „tageszeitung“ (taz) stellte dafür nicht nur ihren Konferenzraum zur Verfügung, sondern fungierte auch als provisorische Geschäftsstelle. Heute hat die deutsche Sektion rund 1.200 Mitglieder, die französische Mutterorganisation rund 1.600. Damit ist der deutsche Verband nach dem französischen der mit Abstand mitgliederstärkste. Sektionen von ROG gibt in insgesamt neun Ländern: Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Kanada, Österreich, Schweden, Schweiz, Spanien.
Noch im Jahr der Gründung stemmte die deutsche Sektion ihren ersten internationalen Hilfseinsatz. Während des Völkermords in Ruanda 1994 rief eine Radiostation zum Mord an den Tutsi auf: „Ihr seid Kakerlaken!“, hörte man auf den grünen Hügeln Ruandas. „Wir werden euch alle töten.“ Um gegen die Hasspropaganda vorzugehen, richtete RSF im Kongo einen Radiosender ein. Von dort gaben Mitarbeiter von RSF und ROG den fliehenden Ruandern Hinweise, wie sie die Flucht überleben konnten.
Auch wenn sich Reporter ohne Grenzen als Menschenrechtsorganisation sieht, ist der Kampf für Pressefreiheit zentral. In den vergangenen 20 Jahren hat ROG Tausenden Journalisten dabei geholfen, ihren Beruf sicherer zu machen. Die Mitarbeiter organisieren Unterschriftenkampagnen für Inhaftierte, informieren über Zensurmechanismen, helfen Reportern bei der Flucht. Bekannt ist die Organisation aber vor allem für ihr Barometer der Pressefreiheit, das die toten und inhaftierten Reporter weltweit zählt. 66 Journalisten kamen im vergangenen Jahr um, während sie ihren Beruf ausübten: erschossen, zu Tode geprügelt, von einer Bombe getötet. In diesem Jahr waren es bereits 30.
Wie viele Journalisten wurden verhaftet, verletzt oder gar getötet?
Für die „Rangliste der Pressefreiheit“ verschickt ROG jährlich einen Fragebogen an Hunderte Experten auf allen Kontinenten, darunter an Korrespondenten des eigenen Netzwerkes, Wissenschaftler und Juristen. Sie beantworten insgesamt 87 Fragen, beispielsweise: Wie groß ist die Medienvielfalt im Land? Wie stark zensieren sich Journalisten selbst? Sind Medien unabhängig, oder folgen sie staatlichen Vorgaben? Die Einschätzung der Experten ergibt eine Punktzahl, die mit den harten Zahlen verrechnet wird: Wie viele Journalisten wurden verhaftet, wie viele getötet oder verletzt?
Auch das Internet nutzt ROG für seine Zwecke. Im Rahmen der Kampagne „Grenzenloses Internet“ entsperrte ROG im März Nachrichtenwebsites, die in ihrem Land blockiert waren: in Russland und China, Usbekistan und Bahrain. Die Seiten wurden gespiegelt und in der Cloud großer Anbieter wie Amazon und Google gespeichert. Man müsste laut ROG schon die gesamte Cloud sperren, um den Zugang zu blockieren – aber das beträfe dann auch Tausende anderer Websites.
Und als vor wenigen Wochen ein chinesisches Gericht die Journalistin Gao Yu wegen „Geheimnisverrats“ zu sieben Jahren Haft verurteilte, stellte ROG geheime Regierungsdokumente online. Die chinesischen Zensoren beschreiben darin, wie genau sie Einfluss auf Medien nehmen: Löscht diesen Artikel auf allen Websites, heißt es da, ändert dort die Überschrift, beschwert euch bei der Redaktion.
Die deutsche Sektion von ROG unterstützt vielfach Journalisten aus Osteuropa und den zentralasiatischen Republiken – Länder, die im Pressefreiheitsranking regelmäßig auf den letzten Plätzen liegen. Zurzeit laufen Kampagnen für zwei Journalisten aus Usbekistan und Aserbaidschan, die eine seit einem halben Jahr in Untersuchungshaft, der andere seit sechs Jahren im Gefängnis. Gut möglich, dass bald wieder ein Exilant nach Deutschland kommt. Einer wie Moses Okile Ebokorait.
Arbeitsfelder von Reporter ohne Grenzen:
Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit
Bei Reporter ohne Grenzen protestiert noch der Chef persönlich: Als 2008, vor den Olympischen Spielen in Peking, die olympische Fackel durch Paris getragen wurde, kletterte der damalige Generalsekretär auf die Kathedrale von Notre-Dame und entrollte mit Helfern ein acht mal acht Meter großes Plakat. Statt olympischer Ringe zeigte es fünf Handschellen – Symbol für die prekäre Menschenrechtssituation in China. 2.000 T-Shirts pro Tag mit diesem Logo verkaufte allein die Pariser Sektion vor den Olympischen Spielen. Es war die vermutlich bekannteste Kampagne von Reporter ohne Grenzen. Auf Initiative von ROG wurden auch schon UN-Resolutionen zum Schutz von Journalisten verabschiedet.
Nothilfe
Journalisten in Not zu helfen war die Gründungsidee von Reporter ohne Grenzen. Doch anders als erhofft, wird der Bedarf jährlich größer. In akuter Gefahr, etwa wenn sie bedroht werden, können Journalisten die 24-Stunden-Hotline von Reporter ohne Grenzen anrufen. Je nach Gefährdungslage wird die Organisation dann aktiv. 127 Journalisten nahmen im vergangenen Jahr diese Nothilfe in Anspruch. Den Journalisten, die in ihrem Heimatland verhaftet werden, verschafft ROG einen Anwalt oder medizinische Versorgung. Sie organisiert zudem Protestbrief-Kampagnen und versucht so, Druck auf die Regierungen zu erzeugen. Ist die Lage zu gefährlich, hilft ROG bei der Flucht nach Deutschland. Die Nothilfe-Referenten von ROG helfen beim Aufbau einer neuen Existenz, geben kostenlose Schulungen und unterstützen die Familien der geflohenen Journalisten.
Fotobücher
Mit dem Fotobuch fing alles an. Die „tageszeitung“ veröffentlichte 1994 noch vor der Gründung von ROG ein Buch mit 100 Bildern renommierter Fotografen. Sie zeigen den Alltag der Kriegs- und Krisenberichterstattung. Seit der ersten Ausgabe erschien jedes Jahr ein neues Fotobuch, zuletzt die Ausgabe für 2015. Damals wie heute stellen Fotografen ihre Bilder kostenlos zur Verfügung. Der Erlös geht an Reporter ohne Grenzen.
Sicherheitstipps und Schutz für Kriegsreporter
Lebensversicherungen zum Anziehen sind teuer. Eine kugelsichere Weste, ein Helm und ein Notfallortungsgerät kosten selten unter 1.000 Euro. Ausgaben, die sich freie Journalisten nicht immer leisten können. Die französische und die schwedische Sektion verleihen deshalb gegen Pfand kostenlos Schutzausrüstungen für den Einsatz in Krisengebieten. ROG gibt Sicherheitstipps, ein kostenloses Handbuch erklärt, wie man gefährliche Situationen vermeidet – was leider nicht immer klappt. Denn in Konfliktzonen drohen Minenfelder, Scharfschützen und Krankheiten wie Cholera. Die deutsche Sektion vermittelt daher auch Versicherungen. Denn normalerweise übernimmt eine Krankenkasse nicht die Kosten, wenn ein deutscher Journalist im Irak oder in der Ukraine angeschossen wird.
Ranglisten
Auf der „Rangliste der Pressefreiheit 2015“ von ROG, die 180 Länder bewertet, steht ganz Finnland ganz oben, vor Norwegen und Dänemark. Deutschland liegt auf Platz 12. Am unteren Ende finden sich Turkmenistan, Nordkorea, Eritrea. Ergänzt wird die jährliche Rangliste, die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Presse- und Informationsfreiheit schaffen soll, durch eine Weltkarte. Länderberichte erklären dazu im Detail, was in den jeweiligen Ländern passierte. ROG präsentiert auch noch weitere Listen. Zu den „Feinden der Pressefreiheit“ etwa zählen so unterschiedliche Organisationen wie die italienische Mafia, der König von Swasiland, Drogenkartelle in Mexiko oder die israelische Armee. Erstmals 2014 ehrte man 100 „Helden der Pressefreiheit“, darunter den US-Journalisten Glenn Greenwald, der als Erster den Whistleblower Edward Snowden interviewte.
Jan Ludwig arbeitet als freier Journalist in Israel. Zwei Wochen nach seiner Ankunft kaufte er sich eine kugelsichere Weste und einen Helm. Vielen Reportern, die in den letzten Jahren in dieser Weltgegend umkamen, half allerdings auch das nicht.