Was ist eigentlich ein Freak? Heute denkt man wohl an einen Menschen, der sich durch einen außergewöhnlichen Kleidungsstil, ungewöhnliche Interessen oder ein spezielles Verhalten in ein selbst gewähltes Außenseitertum begibt. Diese Begriffsbedeutung hat sich allerdings erst in den 1960er-Jahren verbreitet, als im Umfeld der Gegenkultur der Hippies und Studenten das Anderssein zelebriert wurde.

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cms-image-000044946.jpg (Foto: © picture-alliance/dpa)
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Zuvor galten im englischen Sprachraum vor allem Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen und Deformationen als Freaks. Menschen also, die durch ihr äußeres Erscheinungsbild unfreiwillig auffielen. Und oftmals geächtet wurden, da Fehlbildungen seit der Antike häufig als unglückliches Zeichen und als Bestrafung der Familie angesehen wurden.

Gleichzeitig dienten diese „Freaks“ auch zur Belustigung der breiten Masse und wurden im 19. Jahrhundert und bis in die 1930er-Jahre in sogenannten Kuriositätenshows auf Jahrmärkten und in Zirkuskreisen vor einem zahlenden Publikum ausgestellt. Ein ausbeuterisches Leben, in das sich Betroffene mitunter sogar freiwillig begaben auf der Suche nach einem kleinen Einkommen und auch nach Zugehörigkeit. Schließlich wurden Menschen mit schweren Fehlbildungen früher nicht selten von ihren Familien verstoßen.

Ausbeutung und gemeinschaftliches Auffangbecken – eben dieses Spannungsfeld nimmt der von Tod Browning inszenierte Spielfilm „Freaks“ in den Blick, der bereits kurz vor seiner Veröffentlichung im Jahr 1932 für Furore sorgte. In Testvorführungen reagierte das Publikum derart angewidert auf das Leinwandgeschehen, dass die Produktionsfirma MGM den Film von ursprünglich 90 auf etwas mehr als 60 Minuten kürzte. Negative Kritiken sorgten für ein überschaubares Zuschauerinteresse, und so verschwand der „Skandalstreifen“ recht bald wieder aus den Lichtspielhäusern.

Angedacht war „Freaks“ als ultimativer Horrorfilm, mit dem MGM beliebte Genre-Werke wie „Frankenstein“ oder „Das Phantom der Oper“ aus dem Hause Universal übertreffen wollte. Als Regisseur verpflichtete man daher Tod Browning, der im Jahr zuvor noch für die Konkurrenz „Dracula“ mit Bela Lugosi inszeniert hatte. Browning, der als junger Mann selbst im Zirkus gearbeitet hatte, unter anderem als Clown, befasste sich in vielen Filmen mit dem Artistenumfeld.

So auch in „Freaks“, der in einem europäischen Wanderzirkus spielt. Hier treten unter anderem ein Mann ohne Unterleib, ein siamesisches Zwillingspaar und eine Frau mit Bart als Nebenattraktionen auf, Hauptfigur des Films ist aber der kleinwüchsige Hans, der mit der ebenfalls kleinwüchsigen Frieda verlobt ist, sich allerdings in die verführerische Trapezkünstlerin Cleopatra verliebt. Zunächst macht sie Hans nur zum Spaß schöne Augen, treibt dann aber eine Heirat voran, als sie erfährt, dass er ein Vermögen geerbt hat. Gemeinsam mit dem Muskelprotz Hercules plant Cleopatra, ihren Gatten bereits auf der Hochzeit zu vergiften.

Bemerkenswert ist „Freaks“ allein aufgrund seiner authentischen Herangehensweise. Browning setzte nicht auf Make-up-Effekte, sondern suchte in Kuriositätenshows auf der ganzen Welt nach Darstellern. Dabei näherte sich der Regisseur seinen Protagonisten mit großer Sympathie, was die damaligen Zuschauer nachhaltig verstörte. So werden die „Freaks“ nicht nur als reine, kindsgleiche Wesen dargestellt, sondern ebenso als Menschen mit alltäglichen Gefühlen und Problemen. Frieda etwa sorgt sich um das Wohlergehen ihres Verlobten. Die bärtige Frau bringt ein Baby zur Welt. Und die siamesischen Zwillinge werden jeweils von einem anderen Mann umworben.

Der Blick hinter die Kulissen des Wanderzirkus fällt derart unbefangen aus, dass damals gängige Zuschreibungen wie „hässlich gleich böse“ ins Gegenteil verkehrt werden. Verschlagen und durchtrieben sind einzig Cleopatra und Hercules, die Hans verhöhnen und nur sein Geld im Auge haben. Zum Verhängnis wird ihnen dabei das starke Gemeinschaftsgefühl der Außenseiter, die Hans zu Hilfe eilen. Vor allem zum Ende hin fängt Browning sie immer wieder in Gruppenbildern ein und unterstreicht damit ihren Zusammenhalt.

Als verstörend prophetisch erweist sich Brownings Werk rückblickend in einer Szene, in der sich eine Nebenfigur für ein Gesetz zur Tötung oder Verhaftung körperlich Behinderter ausspricht – nur wenige Jahre bevor die Nationalsozialisten in ihrem „Euthanasie“-Programm schätzungsweise über 300.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten töteten und rund 400.000 Menschen zwangssterilisierten. Zwangssterilisierungen kamen in geringerem Umfang bis 1945 auch in anderen Ländern, etwa den Vereinigten Staaten oder Großbritannien, zur Anwendung – schließlich waren die Theorien der Eugenik bis Mitte des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich durchaus anerkannt.

„Freaks“ fristete viele Jahre ein Schattendasein und war in einigen Ländern lange Zeit verboten. Erst bei den Filmfestspielen von Venedig 1962 wurde der Film neu entdeckt und langsam rehabilitiert. Heute gilt er als Genre-Klassiker.

Beinahe 50 Jahre nach Brownings ungewöhnlicher Regiearbeit realisierte David Lynch den starbesetzten Ausstattungsfilm „Der Elefantenmensch“, die chronologisch eher freie Nacherzählung der Lebensgeschichte von John Merrick, der aufgrund von Wucherungen an Körper und Kopf weltweite Berühmtheit erlangte. Der junge Mann vermarktete seine Fehlbildungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls auf Jahrmärkten.

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Im Film wird dieser freiwillige Schritt ausgespart. Denn anders als Browning setzt Lynch auf große Mitleidsposen. Merrick (John Hurt) führt ein erbärmliches Leben, wird von seinem Jahrmarkt-Besitzer erniedrigt und geschlagen, bis ihn der Chirurg Dr. Treves (Anthony Hopkins) aus seiner elendigen Situation befreit. Bei allen guten Vorsätzen führt der Arzt Merricks Ausbeutung allerdings ungewollt fort, da er ihn seinen Kollegen präsentiert und Merrick im Krankenhaus zur Attraktion für Schaulustige avanciert.

Auch Lynch nutzt die Figur des Freaks, um für Mitmenschlichkeit einzutreten, wählt dabei aber eine andere Strategie. An die Stelle von Brownings Authentizität tritt hier eine ausgeklügelte Maske, hinter der John Hurt regelrecht verschwindet. Zudem stellt der Film Merrick als etwas Außergewöhnliches dar – etwa indem wiederholt die erschrockenen Reaktionen anderer Charaktere auf sein Erscheinungsbild gezeigt werden. Wie eine gezielte „Freaks“-Reverenz erscheint der Auftritt einer „Kuriositätentruppe“, die ebenfalls großen Gemeinschaftssinn beweist und Merrick befreit, als er zwischenzeitlich wieder in die Hände seines alten Besitzers gerät.

So unterschiedlich Lynchs Großproduktion und Brownings lange verschmähter Klassiker auch sein mögen: Beide Filme erinnern nachdrücklich daran, dass Äußerlichkeiten nie im Mittelpunkt stehen dürfen, sondern nur der Mensch und sein individuelles Wesen.