Manche sprechen schon von einer Revolution, die Lernen und Lehren weltweit erfassen wird: Dank des Internets soll die Vermittlung von Wissen nicht mehr exklusiv Schulen und Universitäten vorbehalten sein. E-Learning an sich ist nichts Neues, vor allem in den USA formieren sich aber derzeit Initiativen und Unternehmen, die erstklassige Lehrinhalte im Internet verschenken. Pioniere der Bewegung wie Sebastian Thrun sehen darin eine fundamentale Demokratisierung der Bildung. Der gebürtige Solinger ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz und lehrte das Fach bis vor Kurzem an der kalifornischen Eliteuni in Stanford. Jetzt betreibt er die private Online-Hochschule „Udacity“, auf der er und andere renommierte Wissenschaftler eine Handvoll Vorlesungen anbieten. Die Studenten registrieren sich gebührenfrei – zum Beispiel zum Kurs „Wie baue ich in sieben Wochen eine Suchmaschine“ und verfolgen an ihren Rechnern, wie Thrun oder ein Kollege in kurzen Videos Formeln und Zeichnungen auf weißes Papier kritzelt.
Zwischen den Lektionen beantworten die Studenten mit der Maus Quizfragen der beiden Professoren. Wer nicht mitkommt, schaut sich die Lektionen so oft an, wie es eben nötig ist, um die anspruchsvolle Materie zu verstehen. Jeder hat die Möglichkeit, Fragen zu stellen, die die beiden Superstars der Roboter-Szene in Schlabberhemden vor der Webcam beantworten. Am Ende gibt’s eine Abschlussprüfung. Das motiviert: 160.000 Studenten haben sich bei Udacity bereits angemeldet. Ungefähr genauso viele interessierten sich im vergangenen Jahr für Thruns Einführungsvorlesung in Stanford. Die wollte er nicht nur vor 200 privilegierten Studenten am Campus halten, sondern vor viel mehr Menschen online, völlig kostenlos. Normalerweise – das heißt, wenn das Familieneinkommen höher als 100.000 US-Dollar ist – zahlt ein Student in Stanford im Jahr 36.000 Dollar Studiengebühren.
Tausende Dankes-E-Mails habe er aus allen Ecken der Erde erhalten, sagt Thrun, für den die Weltvorlesung eine Art Erweckungserlebnis war – und ein Grundstein für das neue Experiment. Die Lehrer stehen laut Thrun Schlange, um ehrenamtlich bei Udacity Unterricht zu geben – obwohl es viel Arbeit erfordert, die Lektionen für das Internet zu erstellen. „Die Vision ist“, sagt der 45-Jährige über Udacity, „dass unsere hochklassigen Ausbilder einen großen Einfluss auf die Welt ausüben können.“ Die Motivation sei groß, gerade die Unterprivilegierten mit Bildung zu versorgen, die ihnen normalerweise verschlossen bliebe.
Ob online oder Hörsaal, eine Vorlesung von Anfang bis Ende erfordert vom Teilnehmer großen Einsatz. Vor seinem Robotik-Kurs hat Thrun seine Zuhörer an den heimischen Rechnern gewarnt: Pro Woche müssten sie genau wie die Studenten in Kalifornien mit einem Zeitaufwand von ungefähr zwölf Stunden rechnen. 23.000 haben durchgehalten und das „Final Exam“ bestanden – dieselbe Prüfung übrigens wie die Kommilitonen vor Ort. Das begehrte Abschlusszeugnis von der Nobel-Uni gab es dafür zwar nicht, immerhin aber eine Note und ein Zertifikat. Einige vielversprechende Absolventen hätten laut Thrun damit sogar ein Vorstellungsgespräch bei namhaften Unternehmen im Silicon Valley ergattert. Udacity ist nicht das einzige Projekt, das sich um eine bildungshungrige Weltgemeinschaft kümmert. „¡Gracias, muchas gracias!“, bedankt sich Juan R. Berbín aus Venezuela auf der Facebook-Seite von „Coursera“, einer neuen Online-Plattform aus den USA. „Endlich muss ich nicht mehr auf meinen Vater hören, was ich studieren soll“, schreibt Rajan Devnath aus Neu-Delhi in Indien.
Wie Udacity ist Coursera ein sogenannter Massive Open Online Course – kurz MOOC. Die Plattform funktioniert so ähnlich, bietet allerdings zusätzlich zum obligaten Informatik- Handwerk medizinische sowie geistesund gesellschaftswissenschaftliche Kurse an. Nach bestandener Prüfung gibt es auch dort ein Zertifikat – noch kostenlos, künftig aber womöglich gegen eine moderate Gebühr. Im Gegensatz zu Udacity produziert Coursera seine Lehrinhalte nicht selbst, sondern bekommt sie von mehreren amerikanischen Universitäten. Neben Stanford bieten auch Professoren von Princeton, der University of Michigan – Ann Arbor und der Universität von Pennsylvania Vorlesungen an. Unabhängig von solchen privaten Initiativen tun gerade die US-Eliteunis sehr viel, um auch in der virtuellen Welt ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Allen voran das MIT, das bereits 2001 damit begann, Unterrichtsmaterialien zur freien Verfügung im Internet bereitzustellen. Es war damit eines der ersten Institute, das die Forderung der Unesco von 2002 nach freien Lehrinhalten umsetzte. Ziel des Unesco-Projektes ist es, mit sogenannten Open Educational Resources (OER) allen Interessierten den Zugang zu bestimmten Anwendungsprogrammen und kostenfreier Bildung zu ermöglichen. Alle Menschen sollen die Chance bekommen, ihr ganzes Leben lang zu lernen. Seitdem haben Hochschulen wie das MIT unzählige Vorlesungen hochgeladen.
Manche lernen im Web sogar besser als an der Universität
Den OER-Weg geht auch die „Open University“ – die größte Hochschule Großbritanniens. Unter dem Label „Open Learn“ hat sie Lehrmaterialien aus 170 Fachbereichen online gestellt und erlaubt Neugierigen einen Einblick in Ingenieurwissenschaften, die Geschichte Schottlands oder Theorien zur globalen Erderwärmung. Will man dort aber ein richtiges Online-Studium, beispielsweise in Psychologie, mit Bachelor-Abschluss absolvieren, dann werden Gebühren von rund 18.500 Euro fällig. Wie an einer normalen Fernuni eben. Eine Milliarde Menschen will das MIT mit seinem neuesten Projekt „edX“ erreichen, das in Zusammenarbeit mit der Harvard-Universität entstanden ist. Was die Studenten mit dem digitalen Leistungsnachweis später anfangen können, wird sich noch zeigen müssen. So selbstlos, wie es sich zunächst anhört, ist das Gratisangebot jedenfalls nicht. Die Unis testen auf diesem Weg, wie Unterricht im 21. Jahrhundert mit Einsatz modernster Technologie aussehen kann.
Die Verantwortlichen solcher Formate wollen erfahren, wie der Austausch der Online-Studenten untereinander funktioniert. Denn im Web lernen heißt nicht, einfach nur auf den Bildschirm zu starren und brav zuzuhören. Viele bringen in MOOCs ihr Wissen ein, antworten in Foren, Blogs oder über die sozialen Medien auf Fragen ihrer virtuellen Kommilitonen. In eher künstlerischen Kursen wie etwa den zum Kreativen Schreiben lesen die Teilnehmer Kurzgeschichten ihrer Mitschüler und geben ihr kollektives Urteil ab. Auf der Peer-2-Peer-Plattform P2P-University erstellen die User sogar selbst Seminare über Themen, mit denen sie sich gut auskennen, und verdienen sich wie Pfadfinder für ihr Engagement bunte digitale Abzeichen. „Die P2PPlattformen sind sehr lebendig, manchmal aber auch ziemlich chaotisch“, sagt Patricia Arnold, E-Learning-Beauftragte an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München.
Die Professorin für Sozialinformatik beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Lernen im Internet. „Die neuen Plattformen bieten Möglichkeiten der Fortbildung in ganz neuem Maßstab“, sagt Arnold. Das werde vor allem Menschen mit brüchigen Lebensläufen in ihrem Berufsleben helfen. Und auch wenn die Hochschulen derzeit den meisten nichtinstitutionalisierten Anbietern im Internet voraus sind, so kratzen die informellen Bildungsangebote jetzt schon an ihrer akademischen Lufthoheit. „Sie werden nicht die Unis ersetzen“, sagt Arnold, „aber sie haben die Qualität, die Machtverhältnisse zu ändern.“ Zumal Online-Lernen offenbar nicht schlechter ist als gewöhnlicher Unterricht in der Klasse. In einer Langzeitstudie hat ein amerikanisches Forschungsinstitut herausgefunden, dass Schüler und Studenten sogar bessere Leistungen bringen, wenn sie ihr Wissen in Web-Kursen erworben haben. Das gilt allerdings eher für Erwachsene, die sich im Internet weiterbilden wollen, als für jüngere Schüler.
Hierzulande schrecken dennoch viele Lehrkräfte vor den neuen Methoden zurück. Zwar sind Online-Vorlesungen auch von deutschen Universitäten längst kostenlos im Internet verfügbar. Immer mehr Bildungshäuser entdecken iTunes, um Videos und Podcasts von Veranstaltungen sowie Lehrmaterialien bereitzustellen. Dort finden Interessierte beispielsweise Animationen zu Technik und Natur, dynamische Ökonomen, die anschaulich die Welt der Wirtschaft erklären, und multimediale Vorlesungen über das Bewusstsein des Menschen. „Aber nur wenige Professoren in Deutschland haben bisher das Potenzial erkannt“, sagt Sozialwissenschaftlerin Arnold. Die neuen Wege widersprechen der akademischen Kultur dieses Landes und dem traditionellen Verständnis vom geistigen Eigentum, glaubt sie. Auch die deutschen Studenten halten sich noch zurück. Allerdings sei die Entwicklung noch jung und biete tatsächlich revolutionäres Potenzial.