Patrick und Claudia kommen heute irgendwie nicht richtig voran, da hilft auch die Entspannungsmusik nicht weiter. Patrick liegt erwartungsvoll auf dem Bauch, seine Augen sind geschlossen, aber Claudia wirkt unkonzentriert und scheint nicht so genau zu wissen, was sie jetzt machen soll. Pia setzt sich zu den beiden auf die Matratze und zeigt Claudia, wie es gehen kann. Sie streichelt Patrick sanft über den Rücken und über die Arme. Dabei trägt sie nur ihre Unterwäsche und ein Tuch, das sie sich um die Hüften gewickelt hat.

Pia ist eine sogenannte Sexualbegleiterin. Sie weiß, wie man einem Paar beibringen kann, der Intuition zu vertrauen und sich körperlich ganz aufeinander einzulassen. Patrick und Claudia sind extra aus Hamburg angereist, um genau das zu lernen. Bei einem Erotik-Workshop in einem kleinen blauen Haus inmitten der dörflichen Idylle des Wendlands haben sie als Teil einer Gruppe von Behinderten ein Wochenende lang die Gelegenheit, ihre Wünsche und Vorstellungen zu äußern und an Streichelübungen teilzunehmen. Wer will, kann auch mit einer professionellen Begleiterin Sex haben – gegen Geld. In den Niederlanden zahlt das in manchen Fällen sogar die Krankenkasse.

Patrick leidet an den Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas. Er lässt sich leicht ablenken und kann sich vieles nicht merken. Claudia kam als Autistin zur Welt und verarbeitet sinnliche Eindrücke auf eine Weise, die für andere oft nur schwer nachzuvollziehen ist. Patrick und Claudia sind schon seit einiger Zeit ein Paar. Sie kuscheln oft und gerne miteinander, doch ihre Beziehung läuft nicht immer so, wie sich Patrick das vorstellt. Manchmal geht Claudia ihm auf die Nerven. Gleichzeitig wünscht er sich, dass sich beide mehr Zeit für Sex nehmen. Außerdem findet er, dass sich Claudia im Bett oft zu passiv verhält. Sex ist ein universelles Bedürfnis, auch bei Patrick und Claudia. Im Idealfall sorgt Sex nicht nur für ein unbeschreibliches körperliches Wohlbefinden, sondern auch für ein tiefes Gefühl von Nähe und Verbundenheit. Leider haben Idealfälle es an sich, dass sie nicht ständig vorkommen – eine Erfahrung, mit der nicht nur Behinderte leben müssen.

Alfons aus Berlin kennt solche Sorgen nicht. Sex ist für ihn nichts, wofür er sich anstrengen muss, sondern ein selbstverständlicher Teil seines Lebens. Alfons ist vor ein paar Monaten 16 Jahre alt geworden, hat einen frischen Knutschfleck am Hals und wirkt ziemlich männlich für einen Jungen in seinem Alter. Seit drei Jahren ist er mit seiner Freundin zusammen, zumindest immer mal wieder. Es gibt Phasen, in denen die beiden viel Zeit miteinander verbringen, und Phasen, in denen jeder macht, was er will. „Gerade ist es wieder ein bisschen offener. In den Ferien haben wir uns zum Beispiel kaum gesehen“, sagt er. Vor drei Jahren haben die beiden zum ersten Mal miteinander geschlafen. Ganz schön früh. „Das ging gar nicht so sehr von mir aus“, erinnert sich Alfons. „Sie war ein wenig frühreif und wollte es unbedingt ausprobieren. Das war schon etwas ganz Besonderes. Ich bin froh, dass ich das mit ihr gemacht habe.“

Danach haben die beiden noch einige andere Dinge ausprobiert. „Wenn man öfter miteinander schläft, findet man allmählich raus, was für den anderen am besten ist“, sagt Alfons. „Danach schläft man zusammen ein, und alles fühlt sich richtig an.“ Dass Alfons ein so entspanntes Verhältnis zum Sex hat, mag damit zusammenhängen, dass er das zweitjüngste von fünf Geschwistern ist, da bekommt man einiges mit. Hinzu kommt, dass seine Eltern ihm von Anfang an sehr viele Freiheiten gelassen haben. Sie machen keinen Stress, weil sie wissen, dass er meistens weiß, was er tut. Ein paarmal hatte Alfons auch schon was mit anderen Mädchen. „Es gibt natürlich diesen Trieb, dagegen kann man wenig machen. Von diesen Geschichten bin ich aber meistens eher unbefriedigt. Danach frage ich mich, warum ich das überhaupt gemacht habe.“ Eigentlich ist ihm Treue wichtig. Das Problem ist nur, dass er oft genau das haben möchte, was er gerade nicht hat. Wenn er also mit seiner Freundin zusammen ist, hat er manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen, und wenn er allein ist, dann wäre er gerne bei ihr. „Wir finden aber immer wieder zurück zueinander.“

Sich körperlich anziehend zu finden ist wichtig für eine stabile Beziehung

Das wird wohl noch eine Weile so weitergehen. Nach der Schule möchte Alfons erst einmal weg von zu Hause, mindestens für ein halbes Jahr. Alles Weitere lässt er auf sich zukommen. „Ich bin doch erst 16. Da macht es noch keinen Sinn, sich festzulegen.“

So eine Haltung wäre undenkbar gewesen, als Barbara so alt war wie Alfons. Wer damals mit einem anderen Menschen zusammen sein wollte, musste ihn heiraten oder es zumindest vorhaben. Sexuelle Bedürfnisse waren dabei völlig nebensächlich. „Wir hatten keine Ahnung von unserer eigenen Sexualität“, erinnert sie sich. „In meiner ersten Ehe wusste ich noch nicht einmal, dass da irgendetwas fehlt.“ D ie emeritierte Professorin ist heute 75 Jahre alt und sieht mindestens zehn Jahre jünger aus. Den größten Teil des Sommers verbringt sie in einer kleinen Ferienhütte an einem See im Spreewald, und wenn sich am Strand keine Leute vom Campingplatz in der Nähe aufhalten, dann badet sie am liebsten nackt. Was sexuelle Erfüllung bedeuten kann, erfuhr sie zum ersten Mal Anfang der 60er-Jahre in einer heimlichen Liebesbeziehung mit einem Mann, der ebenfalls verheiratet war. „Es war wie ein Rausch, der mit einer tiefen Vertrautheit einherging.“ Mit dramatischen Konsequenzen: Ihre Ehen gingen zu Bruch, als die beiden das Geheimnis lüfteten. Barbara wurde von ihrer Familie verstoßen, auch die Beziehung zu ihrem Liebhaber scheiterte. „Als alleinstehende Frau mit zwei Kindern war ich damals vollkommen isoliert.“

Mitte der 70er-Jahre lernte Barbara ihren zweiten Ehemann kennen und ist bis heute an seiner Seite geblieben. Auch nach dreieinhalb Jahrzehnten Ehe gehört Sex für sie zum Leben – und zwar regelmäßig. „Mein Mann und ich haben nach wie vor eine erfüllte Sexualität. Sie ist anders als vorher, vielleicht nicht mehr so ekstatisch, aber für beide Seiten befriedigend. Zärtliche Berührungen und liebevolle Worte spielen dabei eine große Rolle.“ Für Barbara bildet eine beständige körperliche Anziehungskraft die Grundlage für eine stabile Beziehung – und die Offenheit. „Man muss seine Wünsche kennen und die Scham ablegen, darüber zu sprechen“, sagt Barbara. „Dann braucht man auch keinen Paartherapeuten.“

Manchen Paaren fällt es jedoch schwer, ihre Wünsche zu artikulieren. Ihr Sexualleben ist deshalb oft mit enttäuschten Erwartungen verbunden, mit Frust und Zurückweisung, mit Langeweile und Stagnation. Diesen Paaren möchte Sophie zeigen, dass es auch anders geht. Zu ihren Seminaren unter dem Motto „Rituale der Liebe“ kommen Frischverliebte, die sich besser kennenlernen wollen, aber auch Paare, die eine langjährige Beziehung führen und denen die Banalität des Alltags die Lust am Sex ausgetrieben hat. Es sei nun einmal nicht besonders erotisch, seinem Partner über Jahre hinweg dabei zuzusehen, wie er den Kinderwagen schiebt, den Staubsauger bedient oder die Steuererklärung ausfüllt, bestätigt Sophie, eine überaus ausgeglichen wirkende Endzwanzigerin mit blonden Haaren und großen blauen Augen. Von ihren Wochenendseminaren, die einer Neuauslegung der altindischen Tantra-Philosophie verpflichtet sind, versprechen sich diese Paare neue Impulse und neue Inspiration. Die sexuellen Erfahrungen stehen dabei zwar im Mittelpunkt, aber es geht um mehr. „Wir schauen auf vielen Ebenen, wie man Licht in eine Beziehung bringen kann“, sagt Sophie. „Im Grunde geht es darum, die Kommunikation zwischen den Partnern zu verbessern.“

Der Ablauf ihrer Veranstaltungen ähnelt dem der Behinderten-Workshops im Wendland: Am Freitagabend kommen alle Teilnehmer zu einer Kennenlernrunde zusammen. Samstags geht es mit einfachen Atem- und Bewegungsübungen weiter, bei denen sich die Paare aneinander herantasten. Die Übungen werden allmählich intimer, und je nach Zusammensetzung der Gruppe kann das Seminar am Sonntag in einer rituellen Vereinigung gipfeln, die im Tantra-Jargon „Maithuna“ heißt. So sollen die Teilnehmer im Laufe des Wochenendes lernen, die Schönheit des Augenblicks wirken zu lassen und sich dabei vom Drang zu verabschieden, auf möglichst direktem Wege zum Höhepunkt zu kommen. „Die sexuelle Energie ist unsere Lebenskraft“, sagt Sophie. „Im Alltag neigen wir dazu, diese Kraft zu bändigen. Meine Seminare sind darauf angelegt, einen neuen Zugang zu dieser Kraft zu finden.“

Sprich mit mir: Sex hat mit Kommunikation zu tun

Sophie bietet auch Workshops an, die sich ausschließlich an Männer richten. „Diese Veranstaltung ist speziell darauf ausgerichtet, dahin zu schauen, wo es nicht läuft, wo es Unsicherheiten und Scham gibt“, sagt Sophie. Zu diesen Seminaren bringt sie einen rosafarbenen Satinbeutel mit, in dem sie eine Plüschvagina aufbewahrt, bei der die Einzelheiten der weiblichen Anatomie nachempfunden sind. Mit diesem Anschauungsobjekt demonstriert sie, was Frauen stimuliert. „Was ich mit den Männergruppen mache, hat viel mit Aufklärung zu tun“, sagt Sophie. „Viele Männer sind sich nicht darüber im Klaren, wo sich bei der Frau was befindet. Deshalb wissen sie beim Sex oft auch nicht so genau, was sie da eigentlich tun.“

Daniel braucht keine Nachhilfe, wenn es um die weibliche Anatomie geht. Der 26-Jährige will schon mit über 50 Frauen geschlafen und dabei die verschiedenen Erregungszonen sehr genau erkundet haben. „Sex ist toll“, sagt er, und deshalb kann er nicht genug davon bekommen. Daniel arbeitet als Koch und kommt viel rum. In seinem Telefon sind ein paar Nummern gespeichert, die er nur anzurufen braucht, wenn ihm nach Sex zumute ist. Seine Samstagabende verbringt er oft in einer Diskothek, die nicht gerade zu den coolsten Clubs in Berlin gehört. „Der Laden ist nah, die Mädels sind hübsch, und die Konkurrenz ist nicht sehr groß“, sagt Daniel. „Natürlich nehme ich nicht jede, aber irgendeine findet sich immer.“ Um Frauen, die mit verschränkten Armen dastehen, macht er einen Bogen. Wenn eine Gesprächsbereitschaft signalisiert, spricht er sie nicht frontal an, sondern eher von der Seite, um bloß nicht den Eindruck zu erwecken, dass er speziell an ihr interessiert sei.

Sein Antrieb ist der Reiz des Neuen: „Jede Frau verhält sich anders im Bett. Jede klingt anders, jede hat etwas Besonderes an sich.“ Er lernt auch immer wieder was dazu: „Als Schiffskoch habe ich mal eine kennengelernt, die es mochte, gewürgt zu werden. Das kannte ich vorher nicht, und ich hätte auch nicht gedacht, dass ich mich damit anfreunden kann. Konnte ich aber.“ Außerdem sucht Daniel das Gefühl der Bestätigung, das sich immer dann einstellt, wenn es ihm gelingt, eine Frau zu befriedigen: „Richtiger Sex geht nun mal nur zu zweit. Deshalb gehört es für mich dazu, sehr darauf zu achten, dass auch sie ihren Spaß hat. Dann fühlt sich der Sex auch für mich besser an. Wenn man nur plump draufloshackt, kommt für einen selber auch nicht viel dabei rum.“ Die meisten seiner Freunde haben nur mit fünf oder sechs Frauen geschlafen. Da fällt er schon ein wenig aus dem Rahmen. „Manchmal frage ich mich schon, ob die nun zu wenig Spaß haben oder ob ich es vielleicht übertreibe.“ Daniel ist sich nicht sicher, ob das, was er tut, normal ist. Doch das muss beim Sex jeder für sich selbst herausfinden.

Manche Männer wissen zu wenig über Frauen

„Die einzige Perversion, die ich kenne, ist fehlendes Einvernehmen“, sagt Sookee. „Ich bin zum Beispiel ein Fan von Pornografie. Leider zeigt der überwiegende Teil der gängigen Ware kein einvernehmliches Miteinander. Es ist eine Schande, dass ein Aspekt unseres Erlebens, der so bereichernd und erfreulich sein könnte, dazu instrumentalisiert wird, Macht zu demonstrieren.“

Sookee ist eine Rapperin mit vielen Tätowierungen an den Armen. In ihren Texten nimmt sich die 28-Jährige am liebsten den unverhohlenen Sexismus ihrer männlichen Kollegen vor. Ihr Sendungsbewusstsein ist groß, weil sie früher selbst solche Musik gehört hat, um von den Jungs anerkannt zu werden. Deshalb hat sie ihren Job als Deutschlehrerin an einer freien Schule aufgegeben und konzentriert sich nun ganz auf die Musik, auch wenn sie in der Rap-Szene als Störenfried angesehen wird. „Die spucken auf mich und nennen mich Kampflesbe.“ Dabei sind Sookees Texte alles andere als lustfeindlich. Im Gegenteil: Sie zelebrieren Formen der Lust, die sich über das, was andere als normal empfinden mögen, konsequent hinwegsetzen. „Beim Sex sollte nicht vorher festgelegt sein, wie es abzulaufen hat und wer für was zuständig ist. Das hält einen nur davon ab, eine schöne Zeit miteinander zu haben.“ Kategorien wie „lesbisch“ oder „bisexuell“ hält sie dabei für wenig hilfreich: „Sex macht mich glücklich, wenn ich mich dabei von diesem ganzen Schubladendenken befreien kann und mir das Geschlecht der Person, die mir gegenübersteht, ganz egal ist.“

Zur Vorbereitung auf sexuelle Begegnungen empfiehlt sie vor allem den Mädchen die Masturbation: „Damit sie wissen, was sie von ihrem Körper erwarten können – und damit die ersten Erkundungen nicht von außen kommen. Ist übrigens auch ein gutes Mittel gegen Lampenfieber.“