Eine Geburtstagsparty in einer Belgrader Wohnung. Es geht auf drei Uhr zu in der serbischen Hauptstadt, als jemand jugoslawischen Rock der 80er auflegt. Es ist der Moment, ab dem es kein Halten mehr gibt: Auf einmal wird getanzt und gesungen, und weil der Raum eng ist, auch auf Stühlen und dem Sofa. Der Siedepunkt ist mit Lepa Brena erreicht, einem Superstar des hiesigen Popfolk. „Ja sam jugoslovenka“ (Ich bin Jugoslawin) heißt der mit orientalischen Rhythmen untermalte Hit, bei dem die ungefähr 30-Jährigen völlig ausrasten, obwohl doch für sie der jugoslawische Sozialismus allenfalls eine Kindheitserinnerung sein kann. Der letzte Akkord ist kaum verklungen, da ruft meine gute Freundin Maja in die Runde: „Auch ich bin Jugoslawin!“ Und es klingt kämpferisch. Und auch ein bisschen trotzig.

Ein überraschendes Bekenntnis ist das, denn hatten sie hier nicht vor gut 20 Jahren alles darangesetzt, ihren Vielvölkerstaat endlich loszuwerden? Jugoslawien, so die damals im Westen vorherrschende Erklärung, war ein künstliches Gebilde, ein Völkergefängnis, das nur durch einen Charismatiker wie Staatspräsident Josip Tito mit Mühe und Gewalt zusammengehalten werden konnte. Das blutige Gemetzel, mit dem sich der Zerfall ab Anfang der 1990er-Jahre vollzog, war nur eine weitere Bestätigung für die offensichtliche Rückständigkeit der Region: der Balkan, ein Sonderfall, nicht oder noch nicht ganz Europa, allenfalls sein Hinterhof, ein bisschen unordentlich und chaotisch und dabei jederzeit gefährdet, in archaische Muster zurückzufallen.

Meine Freundin Maja hält das für latenten Rassismus. Und tatsächlich: Wer sich auf die Region einlässt, kann auch ganz andere Dinge erleben: eine Kultur der multiethnischen und religiösen Toleranz, die in Westeuropa ihresgleichen sucht. Selbst in den entlegensten Dörfern wird heute noch erzählt, wie gut das Zusammenleben früher war, dass es im Alltag kaum eine Rolle gespielt hat, wer was war: Serbe, Kroate, Bosnier. Muslime besuchten Christen zum Osterfest, und Christen gratulierten ihren muslimischen Nachbarn zum Opferfest. Man war Bürger eines gemeinsamen Landes, das auch international hohe Anerkennung genoss. Und schließlich der jugoslawische Pass! Es war das beste (und deshalb vermutlich am häufigsten gefälschte) Reisedokument der Welt, denn mit ihm konnte man visafrei sowohl nach West als auch nach Ost reisen. Jugoslawien, so meint Maja, war wahrscheinlich das Beste, was einer Vielvölkerregion wie der im Südosten Europas passieren konnte: ein Europa im Kleinen, lange bevor es die Europäische Union überhaupt gab.

Und heute? 130.000 Menschen mussten sterben, weitere vier Millionen vertrieben werden, um auf dem ethnischen Flickenteppich Nationalstaaten zu errichten. Statt von Jugoslawien wird jetzt vom Westbalkan gesprochen. Maja mag dieses Wort überhaupt nicht. Westbalkan, das ist faktisch ein Sammelbegriff für die Übriggebliebenen in der Region, die noch keine EU-Reife an den Tag legen: die Länder des ehemaligen Jugoslawien plus Albanien minus Slowenien, das bereits seit 2004 EU-Mitglied ist. Wenn im Juli 2013 Kroatien dem europäischen Klub zugehört, wird die Grenze zwischen den Guten und den Schlechten weiter nach Südosten rutschen, und wer dann noch Westbalkan ist, hat es wirklich schwer. Mit weiteren Aufnahmen ist wohl frühestens 2020 zu rechnen.

Wenn dann die EU überhaupt noch existiert, spottet meine Freundin Maja. Irgendwie ist ihre anfängliche Begeisterung über einen möglichen Beitritt verflogen. Einen wirklichen Gewinn erwartet sie sich mit Blick auf die desaströse Lage in den EU-Nachbarländern Bulgarien und Rumänien nicht, aber was sie und ihre Freunde zurzeit besonders stört, ist, dass sich alle Reformen nur nach dem Modell „Befehl und Gehorsam“ vollziehen. Gute Beziehungen zu seinen Nachbarn lassen ein Land auf der Beitrittsleiter nach oben klettern; es war auch der entscheidende Hebel, mit dem Serbien und Kosovo in letzter Sekunde zu einem Kompromiss über ihren Territorialstreit gezwungen wurden. Aber irgendwas ist faul, meint Maja, wenn sich ehemalige Ultranationalisten nun als glühende Europäer aufspielen und einfach alles liefern, was Brüssel verlangt. „Auf Knien“ bat der serbische Präsident Tomislav Nikolić kürzlich im bosnischen Fernsehen um Verzeihung für das Massaker von Srebrenica, bei dem rund 8.000 bosnische Muslime durch bosnisch-serbische Verbände ermordet wurden – und wirkte dabei so engagiert, als ob er sich gerade seine Fingernägel feilte.

Fernab des nationalistischen Getöses tauschen sich die Menschen aus

Dabei finden die regionalen Kooperationen auf anderer Ebene schon längst statt. Doch wieder muss man genau hinschauen, denn es ist eine Entwicklung, die sich fernab des mitunter immer noch nationalistischen Getöses der Politik vollzieht; es ist ein Prozess von unten, vorangetrieben von unterschiedlichsten Akteuren, die alle zusammen auf vielfältigste Weise an so etwas wie einem neuen postjugoslawischen Raum arbeiten.

Schon ist von einer neuen „Jugosphäre“ die Rede – ein Begriff, der von dem britischen Journalisten Tim Judah eingeführt wurde, um zunächst zu beschreiben, dass die ehemaligen Teilrepubliken inzwischen wieder die wichtigsten Handelspartner füreinander sind. Aber es ist nicht nur wirtschaftlicher Pragmatismus, der die Menschen wieder zusammenführt. Fast 40 Jahre gemeinsame Sozialisation hinterlassen ihre Spuren: eine gemeinsame Sprache, geteilte Geschmacks- und Konsumgewohnheiten. „Es ist wie ein gemeinsamer Stallgeruch innerhalb Jugoslawiens, der die Menschen verbindet“, sagt Irena Risti, Historikerin an der Universität Belgrad. „Es ist nicht von den Eliten gesteuert, es ist etwas, das einfach passiert.“ So touren kroatische Bands schon längst wieder in Serbien oder Bosnien und spielen dort vor ausverkauften Hallen, es gibt gemeinsame Filmproduktionen, und auch der Buchmarkt hat sich wieder über die nationalen Grenzen hinweg ausgerichtet. Und im Sport wurde bereits 2001 eine adriatische Basketball-Liga gegründet, in der die besten Vereine Serbiens, Kroatiens, Sloweniens, Montenegros und Bosnien und Herzegowinas wieder vereint sind.

Und das alles ohne eine einzige Förderung durch die EU, die seit den Kriegen Abermillionen in die Region pumpt, um die Versöhnung voranzubringen. Doch was in der neuen Jugosphäre passiert, hat niemand geplant. Sie findet einfach statt. Maja und ihre Freunde etwa wurden 2008 durch den Protest der Belgrader Studenten gegen Studiengebühren politisiert, und ganz selbstverständlich haben sie damals Kontakt zu ihren Kommilitonen in Kroatien aufgenommen. Inzwischen trifft man sich jeden Mai, auf dem „Subversiven Forum“ in Zagreb, das sich in den vergangenen drei Jahren zum Haupttreffpunkt der kritischen Jugend gemausert hat. Im vergangenen Jahr wurde die Zukunft Europas diskutiert, dieses Jahr ging es dann um die Utopie der Demokratie.

Dabei ist für die bis zu 1.000 Teilnehmer der jugoslawische Raum der selbstverständliche Bezugspunkt. Eine gemeinsame Geschichte und kulturelle Prägung, dazu noch eine Abscheu vor allen Formen des Nationalismus – so wird vielleicht verständlich, warum sich meine Freundin Maja noch immer als Jugoslawin bezeichnet. Mit Nostalgie hat das also wenig zu tun.