„Vieles, was ich heute über Flüchtlinge in der Zeitung lese, erinnert mich an Henris Geschichte“, sagt Kirsten Ehrhardt. Sie spüre jetzt wieder die Angst der Menschen, durch die Integra-tion der anderen zu kurz zu kommen. Sie merke, dass die neuen Mitbürger eher als Belastung gesehen werden und nicht als Bereicherung. Bei ihrem Sohn sei es um ganz ähnliche Fragen gegangen.
Henri Ehrhardt war im Jahr 2014 in den Medien Thema, weil er nicht mit seinen Freunden aufs Gymnasium durfte. Bis dahin hatte er trotz seines Downsyndroms eine reguläre Grundschule besucht. Unterstützt von einem Sonderpädagogen wurden dort behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet – ein Modellversuch zur Inklusion. Und einen solchen wünschten sich Henris Eltern auch an der weiterführenden Schule. Ihr Sohn sollte „mittendrin“ bleiben, nicht aus seinem Umfeld gerissen werden. Und weil seine Freunde von der Grundschule auf das örtliche Gymnasium wechselten, wollte er das eben auch.
Doch die Lehrerkonferenz des Gymnasiums lehnte ab, auch Eltern anderer Kinder stellten sich quer. Man könne Henri nicht aufnehmen, weil man ihn nicht entsprechend fördern könne und er auch keine Aussicht habe, das Abitur zu schaffen. Er würde das Niveau senken, hieß es, und solle besser auf eine Sonderschule gehen. Auch an der örtlichen Realschule wurde Henri nicht aufgenommen.
Für Kirsten Ehrhardt war das damals ein Grund, in die Öffentlichkeit zu gehen. „Im Kern ging es dabei aber nicht um Menschen mit Behinderung, sondern um unseren Umgang mit Vielfalt“, sagt sie heute. „Wollen wir Inklusion oder Separation?“
Eine Umfrage der „Aktion Mensch“ aus dem Jahr 2012 hat ergeben, dass jeder Zweite in Deutschland Behinderte im Alltag nicht wahrnimmt, jeder Dritte nie Kontakt mit Behinderten hat. Laut Statistischem Bundesamt leben in Deutschland aber mehr als zehn Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Mit anderen Worten: Es scheint da ganz selbstverständlich etwas zu geben, was im Fall von Mi-granten gern als warnendes Schlagwort verwendet wird – eine Parallelgesellschaft.
„Wir haben ein stark ausgebautes System von Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderung – wie in sonst keinem europäischen Land“, sagt Britta Leisering vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Sie beobachtet die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die am 3. Mai 2008 in Kraft getreten ist. „Die soziale Ausgrenzung, die Menschen mit Behinderungen hier in Teilen noch erfahren, ist menschenrechtlich ein Problem.“
Im Frühjahr 2015 hat ein UN-Ausschuss einen Bericht zum Stand der Inklusion in Deutschland veröffentlicht. Der Ausschuss zeigt sich auf nahezu jeder Seite des Dokuments „besorgt“. Überspitzt formuliert: Behinderte wie Henri wohnen nicht mit uns, arbeiten nicht mit uns zusammen, sie fahren nicht mit uns Bus und Bahn, gehen nicht in dieselben Sportvereine und schon gar nicht in dieselben Schulen. „Wer wirklich Inklusion will, muss das Sondersystem zurückbauen“, findet Kirsten Ehrhardt. Für sie heißt das: Förderschulen zugunsten inklusiver Schulen schließen, Wohnheime und Behindertenwerkstätten ebenso.
Mittlerweile gilt in Baden-Württemberg ein neues Schulgesetz. Nun können die Eltern entscheiden, ob ihr Kind eine Sonder- oder eine Regelschule besucht. Ein ähnliches Gesetz gibt es in Nordrhein-Westfalen. Wichtig dabei ist, dass weder die Förder- noch die Regelschule zwingend vorgeschrieben sind. Denn es gibt auch Eltern, die genau die gegenteilige Sorge haben: Dass ihr behindertes Kind auf einer normalen Schule nicht genug gefördert wird.
Henri und seine Mutter haben sich für die Regelschule entschieden. Nachdem Henri die vierte Klasse wiederholt hat, besucht er nun seit einem halben Jahr die fünfte Klasse der Realschule, die ihn im vergangenen Jahr noch nicht aufnehmen wollte. In diesem Schuljahr hat es dort geklappt mit der Inklusionsklasse. Kein Glück, sondern Henris gutes Recht.