An einem Dienstagabend im Herbst 2013 wurde Vanessa ziemlich neidisch. Sie guckte gerade die Fernsehsendung „Let’s Dance“, in der der in Deutschland als Transmann und Leichtathlet  bekannte Balian Buschbaum die Hüften kreisen ließ, und fragte sich: Will ich nicht auch so leben? 

Nach der Sendung stöberte die 17-Jährige im Internet, tippte Schlagworte wie Transsexualität und Testosteron ein und staunte, dass es so viele andere gab, die sich ebenfalls nicht wohl in ihrer Haut fühlten, und vor allem darüber, dass es so viele Möglichkeiten gab, das zu ändern.

Zwei Jahre später ist aus Vanessa Jonas* geworden. Er sitzt in seinem Lieblingscafé in einer Großstadt in Deutschland. Er hat kurze hellbraune Haare, freundliche blaue Augen, ein unbeschwertes Lachen, ein wenig Bartwuchs und macht alles in allem nicht den Eindruck, als hätten ihn die letzten zwei Jahre groß belastet. Dabei hat er eine beschwerliche Zeit hinter sich, in der er mehrmals operiert wurde, täglich das männliche Sexualhormon Testosteron nahm und vor Gericht seinen Namen ändern ließ. Eierstöcke und Gebärmutter wurden entfernt, die Vagina ist geblieben. 

Transsexualismus nennen es Experten, wenn ein Mensch sich nicht mit seinem biologischen Geschlecht identifizieren kann und ein anderes anstrebt. Jonas fühlte sich schon als Kind mit seinem Geschlecht und den dazugehörigen Erwartungen nicht wohl. Als Mädchen trug er kurze Haare und nie ein Kleid. Er spielte lieber mit den Jungs als mit den Mädchen. Und er war froh, dass seine Eltern ihm nie vorschrieben, wie er sich zu verhalten hatte. Dann sei er in die Pubertät gekommen, und sein Körper entwickelte sich in die komplett falsche Richtung. „Ich fand es richtig scheiße. Besonders die Menstruation und die Brüste. Alle Frauen in meiner Familie haben große Brüste, und ich wollte nicht, dass meine auch so aussehen.“ Um sie zu verstecken trug er nur schwarze Sport-BHs, weil die den Busen platt drücken. „Es hat sich alles falsch angefühlt“, sagt Jonas und schaut dabei ein wenig stolz an seinem heutigen Oberkörper hinab. Das eng anliegende blaue Shirt betont seine athletische Statur.

Er hätte mit seinem Outing bis nach dem Abi warten können, es war nur noch ein Jahr bis dahin. Aber er wollte nicht. „Ich fühle mich nicht ganz wohl in meiner Hülle“, gestand er seinem Lieblingslehrer, dem ersten Menschen, den er ins Vertrauen zog. Der Lehrer riet Jonas, noch einmal über sein Vorhaben nachzudenken, denn angesichts der Folgen seiner Entscheidung solle er sich wirklich sehr sicher sein. Nach dem Gespräch brauchte Jonas einige Tage, um wieder Mut zu fassen. Was wäre, wenn seine Freunde ihn als Freak abstempelten? Wer würde überhaupt zu ihm stehen?

Noch heute ist er aufgeregt, wenn er davon spricht, wie er schließlich seinen Mitschülern von seiner anderen Identität erzählte. Vor einer Unterrichtsstunde stellte er sich vor die Klasse, versuchte sich zu konzentrieren, spürte seine Halsschlagader pochen. „Ich muss euch was sagen. Ich habe beschlossen, mein Leben als Mann weiterzuführen. Es wäre mir lieb, wenn ihr mich ab jetzt Jonas nennt.“ Das waren seine mutigen -Worte. Alle Augen ruhten auf ihm, totale Stille, bis er erneut etwas sagte, nämlich: „Ich bin jetzt fertig.“ Und dann klatschte die ganze Klasse. 

In der Familie verlief das Outing komplizierter. Als er seinen Eltern erzählte, dass er auch seinen Namen ändern -wolle, ging vor allem seine Mutter auf Distanz. Sie verstand nicht, wie wichtig es für Jonas war, sich eine neue Identität zu schaffen, und sie versteht es bis heute nicht. Schon seit einem Jahr haben sie kaum mehr Kontakt zueinander. Jonas erzählt kühl von diesem Konflikt, als wollte er sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen.

Wie viele Menschen in Deutschland sich nicht mit -ihrem biologischen Geschlecht identifizieren, ist nicht sicher. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Offiziell gab es in den vergangenen zehn Jahren mehr als 17.000 Verfahren nach dem Transsexuellengesetz. Das ermöglicht seit 1980 eine Namens- und eine Personenstandsänderung. Allerdings gibt es eine Reihe durchaus umstrittener Bedingungen; eine davon sind zwei medizinische Gutachten. Psychotherapeuten sollen ausschließen, dass dem Wunsch nach Geschlechtsänderung eine akute Psychose oder Persönlichkeitsstörung zugrunde liegt. Viele transidente Menschen fühlen sich gerade dadurch wie Kranke behandelt. 

Mit seinen Besuchen bei einem Psychotherapeuten fing Jonas kurz nach dem Outing an, nach einem Jahr bekam er das erste Gutachten und dann noch ein zweites, von einem anderen Fachmann. Der Weg zum Mann begann.

Jonas kramt sein Handy aus der Hosentasche, wischt mit seinen zierlichen Fingern über den Bildschirm und zeigt ein Foto von 2013. Darauf erkennt man ihn, doch sein Gesicht ist zarter, etwas runder als heute. Das nächste Foto ist von 2014, Jonas hatte das erste Mal Testosteron genommen. „Das war so ein krasser Tag“, sagt Jonas und packt sein Handy wieder in die Hose. „Ich hab mich schon am Morgen ein bisschen wie high gefühlt, und als mir die Apothekerin das Testosteron-Gel gegeben hat, war ich nur noch am Grinsen.“ Das ist er auch heute noch, wenn er sich erinnert. Er schnappte sich das Gel und rannte nach Hause. In der nächsten Minute stand er nackt, Arme und Oberkörper vollgeschmiert mit dem Testosteron, im Badezimmer und wartete darauf, dass etwas passierte. Und obwohl erst mal nichts geschah, war er so glücklich wie nie. 

Am nächsten Morgen beim Aufwachen bemerkte er plötzlich einen völlig neuen Geruch an sich, herber, kräftiger. „Ich dachte, da liegt eine andere Person im Bett, bis ich gemerkt habe: Das bin ja ich.“ Verwirrt war er auch, weil er große Lust auf Sex hatte, das war bis dahin eher selten gewesen. Nach einiger Zeit gewöhnte er sich an den neuen Geruch und an die neuen Gefühle. Seine Klitoris schwoll durch das Testosteron auf die -Größe eines Daumens an. Dadurch ist sie für Jonas nichts Weibliches mehr, eher so eine Art Mikropenis, wie er sagt. 

Auch seine Stimme änderte sich mit der Zeit. Heute klingt sie wie die eines Jungen im Stimmbruch. Manchmal, wenn er aufgeregt redet, überschlägt sie sich. Mit der Zeit kamen auch der Bart und die breiteren Schultern, Nebenwirkungen wie Hitzewallungen und schlaflose Nächte allerdings auch. 

Nach dem Testosteron folgten die Operationen: Jonas’ Brüste, Gebärmutter und Eierstöcke wurden entfernt, alles verlief ohne Komplikationen. In Deutschland sind diese Maßnahmen ab 18 erlaubt. Die Zeit im Krankenhaus sei anstrengend gewesen, sagt Jonas. Aus drei Tagen wurden neun, aus kleinen Zweifeln große. Doch der Wille, seinen weiblichen Körper hinter sich zu lassen, gab ihm Kraft. Und dass ihm seine Schwester und sein jetziger Freund zur Seite standen. 

Jonas ist glücklich mit seiner Entscheidung. Auch mit der, dass er seinen Körper nicht vollkommen angleichen ließ: Einen Penis hat er nämlich nicht. Das Risiko, dass etwas schiefgeht, war ihm zu hoch. „Mein Ziel war es, glücklich zu sein, und das habe ich jetzt mit den Eingriffen geschafft. Ich brauche keinen Penis.“ Auch dass er keine Kinder zeugen kann, mache ihm nichts aus. 

Ob er dennoch irgendetwas vermisst? Die Antwort hört sich wie ein Klischee an, doch Jonas meint es ganz ernst. „Dass ich nicht mehr bis 20 denke, nur noch bis zwei“, sagt er. Die Weitsicht fiele ihm seit dem Testosteron schwerer, aber ruck, zuck Entscheidungen treffen, das ginge jetzt deutlich einfacher. Bei der Verabschiedung hat Jonas noch einen Ratschlag. „Da muss man aufpassen. Jungs haben so ihre Moves, die ich lange nicht richtig konnte“, sagt er. 

Und dann gibt er ziemlich cool High five. 

* Den Namen von Jonas haben wir geändert, weil er keine Lust hat, ständig auf seine Geschlechtsveränderung angesprochen zu werden. Kann man verstehen.